Scott Meyer

PLÖTZLICH ZAUBERER


Скачать книгу

       LUZIFER Verlag

      Kapitel 1

      Schrecken

      Martin Banks war von der Wissenschaft begeistert. Als Kind hatte er alles über Menschen gelesen, die gewaltige Entdeckungen gemacht hatten. Entdeckungen, die die Welt verändert hatten. Er hatte sich immer gefragt, was für Empfindungen er wohl hätte, wenn er selbst jemals etwas wirklich Weltbewegendes entdecken würde. Jetzt wusste er es. Denn er hatte gerade eine solche Entdeckung gemacht. Er war überrascht, denn er fühlte nun einen Schrecken, der ihn fast dazu brachte, sich in die Hose zu machen.

      Martin sah sich nicht als Hacker. Er mochte das Image nicht, das mit dieser Bezeichnung einherging. Sicher, als Teenager hatte er mit der ganzen Bandbreite dieses Images experimentiert, aber er fand es einfach zu anstrengend, die ganze Zeit gegen alles rebellieren zu müssen. Es war ein emotionales Hamsterrad. Es hörte nie auf und brachte einen nirgendwo hin. Wenn man in einem Zustand ständiger Rebellion lebt, wird man unweigerlich von allen wichtigen Personen seines Lebens missachtet.

      Martin beschloss also, dass er kein Hacker war. Er war nur ein Kerl, der es wirklich mochte, seine Zeit am Computer zu verschwenden.

      Es war ein ganz gewöhnlicher Abend gewesen. Martin surfte gerade im Internet und schaute sich nach Seiten um, von denen er ungestraft etwas abgreifen konnte.

      Im Hintergrund lief der Fernseher und tauchte das Zimmer in ein schummriges Licht.

      Die Flimmerkiste bot ihm gelegentlich Ablenkung und die Illusion von menschlichem Kontakt. Ihm war klar, dass er Dinge tat, die bei genauer Betrachtung illegal waren, aber er trieb die Rumpfuscherei auf den Computern anderer Menschen nie besonders weit. Im Grunde war es harmlos, was er tat. Die Behörden würden sich nicht für ihn interessieren, solange Täter mit höherer krimineller Energie noch frei herumliefen. Das redete er sich zumindest immer wieder ein, aber er war zu schlau, um es wirklich zu glauben. Das hielt ihn dennoch nicht davon ab, jeden Abend den Computer einzuschalten, um zu schauen, was es dort zu sehen gab.

      In dieser Nacht sah er sich auf den Servern eines Herstellers für Mobiltelefone um, der schon seit den 1930ern im Geschäft war. Allerdings hatten sie zu dieser Zeit Radios in der Größe von Briefkästen hergestellt. Er hatte eigentlich gar nichts Schlimmes getan. Martin hatte nicht einmal gewaltsam eindringen müssen. Jeder, der gute Kenntnisse von Netzwerkstrukturen hatte und gewillt war, sich eine unglaubliche Menge von verblüffend langweiligen Informationen anzusehen, hätte diese Datei finden können.

      Sie gehörte in die Kategorie: besonders uninteressant.

       Fünf Terabyte einfacher ASCII-Textzeichen. Selbst der Name machte Martin schläfrig – repository1-c.txt. Der Moment, in dem er dachte, dass kein vernünftiger Mensch an einer Datei wie dieser interessiert sein könnte, war der Moment, in dem er beschloss, einen Blick hinein zu riskieren.

      Er schätzte, dass es zu lange dauern würde, sie komplett herunterzuladen, darum entschied er stattdessen, direkt mit einem Terminal-Emulator auf sie zuzugreifen. Als die Datei sich öffnete, schien sie aus einer endlosen Reihe riesiger, unterschiedlicher Datenblöcke zu bestehen. Die einzelnen Datenblöcke waren ein gewaltiges Zahlenwirrwarr, in dem sich nur ab und zu Bruchstücke von erkennbarem Text fanden. Er hätte die Datei einfach komplett ignorieren können, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass sich viele der Zahlen scheinbar ständig änderten. Er überprüfte das schließlich genauer. Er arbeitete mit seinem Standard-Texteditor, und soweit er wusste, hatte er bislang kein Update eingespielt, durch das so etwas möglich wäre. Aber er sah es – ganz deutlich.

      Das Erste, was Martin immer tat, wenn er eine neue Datei fand, war nach seinem eigenen Namen zu suchen. Es mochte egozentrisch erscheinen, aber Martin machte sich darüber keine Sorgen. Er hatte eine Menge Zeit damit verbracht, über sich selbst nachzudenken, und war zu der Erkenntnis gelangt, dass er definitiv nicht von sich selbst eingenommen war.

      Er suchte also nach »Martin Kenneth Banks«.

      In der Regel dauerte die Wörtersuche in einer simplen Textdatei nicht allzu lange. Es war leicht für einen Computer, mit einfachem Text zu arbeiten. Dieses Mal dauerte Martins Suche nach sich selbst aufgrund der schieren Größe der Datei allerdings fast zehn Minuten. Schließlich fand er seinen Namen, der sich tatsächlich am Ende der Datei befand.

      Über eine Stunde verbrachte er damit, auf die Datei zu starren, und irgendwann war er in der Lage, ein paar erkennbare Informationen aus ihr herauszukitzeln. Wer auch immer diese Datei erstellt hatte, wusste anscheinend eine Menge über ihn. Es irritierte ihn nur, dass seine Größe nicht stimmte. Da stand allerdings auch nicht Größe – da war nur eine Zahl. Aber es war unverkennbar. Ein Meter achtzig.

      Das stimmte aber nicht. Es könnte Martins Größe sein, wenn man sich die Mühe machen würde, ihn zu vermessen, doch in jedem Formular, das er seit der Highschool ausgefüllt hatte, hatte er einen Meter siebenundachtzig angegeben. Er änderte die Zahl also und drückte auf Speichern. Weitere Augenblicke verbrachte er damit, sich verschiedene Nummern in der Datei anzuschauen, dann stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen.

      Martin streckte sich und fühlte plötzlich ein ziemliches Unbehagen in seiner Leistengegend. Es schien so, als hätte jemand den Bund seiner Jeans gepackt und hochgezogen. Es war seine Lieblingsjeans. Sie war schon immer ein wenig eng gewesen, denn er mochte Hosen, die einen ständig daran erinnerten, dass man auch Hosen trug, aber sie hatte ihm nie so ein Unbehagen wie heute beschert. Er sah nun an sich hinab auf seine Taille. Sein Gürtel war genau dort, wo er hingehörte, aber die Hosenbeine der Jeans waren definitiv kürzer als gewöhnlich. Er trug Hochwasserhosen. Der Saum war definitiv höher, als er es in Erinnerung hatte.

      Seltsam, dachte er, als er seine Hose ein wenig herunterzog und ins Badezimmer ging. Während er geistesabwesend pinkelte, warf er einen Blick auf den Spiegelschrank. Er sah, dass sich Staub darauf gesammelt hatte, und dachte, dass er da oben wirklich mal dringend wieder sauber machen müsste. Er wischte den Staub nicht oft genug weg, weil er nicht dort hochsehen konnte. Martin starrte auf den Staub und ließ den Gedanken kurz sacken, bis er erkannte, dass er sein Ziel verfehlt hatte und gerade gegen die Wand urinierte.

      Die ganze Zeit, während er die Wand hinter der Toilette säuberte, lachte er über sich selbst. Als Kind hatte er ab und zu nachts das Haus verlassen müssen, um für seine Eltern etwas aus dem Auto zu holen. Dabei hatte er immer darüber nachgedacht, wie gruselig es doch wäre, wenn ihn irgendein schreckliches Monster verfolgen würde, und er auf dem Weg zurück ins sichere Haus mit zusammengekrampften Magen um sein Leben rennen müsste. Dann hatte er stets gelacht, weil es einfach lächerlich erschien, dass ihn ein Monster auf einer gut beleuchteten Straße in einer Vorstadt in seinem eigenen Vorgarten jagen würde.

      Das hier, so wusste er, war nichts anderes. Seine Hose war einfach hochgerutscht. Wahrscheinlich bedeutete es, dass er an Gewicht zugelegt hatte. Das war zwar nicht gut, aber auch nichts, weswegen man gleich ausflippen musste. Und der Spiegelschrank war vielleicht etwas abgesenkt oder eine der Schrauben, die ihn hielten, hatte sich aus der Trockenbauwand gelöst – oder vielleicht bildete er sich das alles auch einfach nur ein. Die ganze Nacht in einem dunklen Apartment herumzusitzen, in dem nur der Fernseher und die Computerbildschirme etwas Licht spendeten, veränderte nach einiger Zeit nun mal die Wahrnehmung.

      Als die Wand wieder sauber war, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Spiegelschrank. Er war immer noch fest an der Wand angebracht und schien sich kein Stück bewegt zu haben. Martin konnte sehen, dass er oben mit Staub bedeckt war, und war sich außerdem ziemlich sicher, dass er sich immer in die Augen hatte schauen können, wenn er in die verspiegelte Front geblickt hatte. Er erinnerte sich daran, dass sein Spiegelbild ungefähr auf der Hälfte der Augenbrauen abgeschnitten worden war. Jetzt sah er in den Spiegel, und das Einzige, was er sehen konnte, war seine Nase. Er blickte erneut auf seine Füße, um sich zu vergewissern, dass er barfuß war. Dann stand er einfach nur verwirrt da.

      Schließlich verließ Martin das Badezimmer. Er schaltete jetzt überall in der Wohnung das Licht ein, im Wohnzimmer,