Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik


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es war absolut simpel.«

      Ich muss Zeit gewinnen. Es konnte den anderen nicht verborgen bleiben, was hier geschah. Auch die Bibliothek war mit Überwachern ausgestattet und Chris flitzte zwischen den Regalen herum. »Warum ausgerechnet er?«

      »Die Kaugummis.« Die Kreatur brach in höhnisches Gelächter aus. »Ich konnte sein Blut in die Masse einfügen und so wurden meine Gedanken stets zu seinen Gedanken, wenn ich eines davon gekaut habe.«

      Es waren jene Momente, in denen sie sich fragte, wie sie nur alle mit Blindheit hatten geschlagen sein können. Wieso war ihnen nie der Gedanke gekommen, nach dem Blut zu suchen, das die alten Kreaturen benötigten, um den eigenen Geist zu verändern.

      »Chloe war nahe dran«, erklärte ihr Gegenüber siegessicher. »Sie hat die Globen aktiviert. Zwar haben die nur mich gezeigt – Max ist sicher verwahrt –, aber als sie zeitlich zurückging, konnte sie meinen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Attacke auf Leonardo vergleichen. Sie ist schon gewitzt. Entschuldigung, sie war gewitzt. Noch ein paar letzte Worte, bevor ich dich erledige und das Archiv aufsuche?« Er hob Leonardos Armband in die Höhe. »Der Zugang liegt frei.«

      Einen Augenblick starrte Clara auf den kobaltblauen Stein. Dann begann sie zu lachen.

      Die Kreatur schaute sie verblüfft an. »Bist du nun verrückt geworden?«

      »Oh, du dummes Ding«, sagte sie. »Du hast doch nicht geglaubt, dass sie dich das tun lässt?«

      »Was …?«

      »Die Schattenfrau hat dich hier aufgrund deiner zweiten Fähigkeit eingeschleust, nicht wegen der perfekten Imitation, zu der du fähig bist.« Sie deutete auf den Folianten, wohl wissend, dass die Uhr tickte. Wo blieben die anderen? »Die alten Wechselbälger – und du bist einer davon, das wissen wir mittlerweile – konnten auch in ein Portal verwandelt werden. Das war ihr Tod, doch damit gewährten sie Schattenkriegern Zutritt zu Einrichtungen der Lichtkämpfer. Deshalb war es den Kämpfern von damals so wichtig, euch auszurotten. Die Schattenfrau will nicht, dass du in das Archiv vordringst. Das will sie selbst tun.«

      Der Wechselbalg schaute unsicher drein. Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, da begann die Rücktransformation. Max’ Gesicht verschwand, der Körper nahm die ursprüngliche Form an. Graue, ledrige Haut, spitze Ohren, messerscharfe Zähne. Sie konnte auf dem Gesicht der Kreatur erkennen, dass das nicht von ihr gewollt war. Der Wechselbalg ließ die Armmanschette fallen. Ein Schrei hallte durch die Bibliothek, wie sie noch nie einen ähnlichen gehört hatte, als das Wesen plötzlich in loderndem schwarzen Feuer stand. Es schmolz zusammen, veränderte sich, ein Wirbel entstand.

      »Ein Schattenportal«, flüsterte Clara.

      Sie riss ihren Essenzstab an sich. Mit einem Aufrufzauber holte sie Leonardos Armmanschette heran. Gleichzeitig griff sie nach ihrem Kontaktstein, um eine Warnung auszusenden. Es war nicht schwer zu erraten, was gleich geschehen würde.

      Sie behielt recht.

      Ein Fuß, eingehüllt von einem dunklen Nebelfeld, trat aus dem Portal. Der Rest folgte kurz darauf. Sie standen sich gegenüber, Auge in Auge.

      »Ah, home sweet home.« Die Stimme der Schattenfrau drang nur gedämpft und verzerrt unter dem verhüllenden Feld hervor. Ihr Antlitz, selbst der Essenzstab, blieben vollständig verborgen.

      Clara hob den Stab.

      »An mir kommst du nicht vorbei!«

      17. Ein Plan in einem Plan

      Johanna betrat mit gezücktem Essenzstab die Bibliothek.

      Hoch über ihr, auf dem Balkon der zweiten Leseebene, stand Clara. Aus einem in schwarzen Flammen stehenden Portal ihr gegenüber trat die Schattenfrau.

      »Nein«, erklang hinter ihr Kevins Stimme. »Das ist unmöglich. Das Bild … Max.«

      Sie wandte sich dem jungen Lichtkämpfer zu. »Ich übernehme das hier. Eliot trommelt bereits alle Ordnungsmagier zusammen. Tomoe trifft gleich ein und Albert aktiviert Sicherungsmaßnahmen. Du musst den echten Max finden.«

      »Aber wie?«

      »Er ist im Castillo. Wenn der Wechselbalg das alles geplant hat, schwebt er in Lebensgefahr. Erkläre Einstein, was hier vorgefallen ist. Da wir nun wissen wer ersetzt wurde, gibt es Möglichkeiten das Original zu finden. Geh!«

      Kevin rannte davon.

      Johanna lief ihrerseits auf die metallene Wendeltreppe zu. Augenblicke später stand sie dem Nebelfeld gegenüber.

      »Dein Einfallsreichtum ist beeindruckend.« Sie ließ ihren Essenzstab keinen Zentimeter sinken.

      »Oh, aber das ist noch gar nichts.« Ihre Feindin wirkte Magie. Eine düstere, kranke Spur entstand.

      Der kobaltblaue Permitstein sauste mit der Armmanschette in ihre Hand, während Clara von einem Schlag getroffen über die Brüstung fiel. Johanna konnte es nicht mehr verhindern. Wenige Schritte brachten sie zum Geländer. Tief unter ihr war Clara aufgekommen, hievte sich soeben ächzend in die Höhe.

      »So soll es von nun an also sein.« Sie wandte sich ganz der Feindin zu. »Geschmiedete Ränke, tote Lichtkämpfer – und das alles im Zeichen eines geheimen Plans.«

      »Das hast du ganz richtig erkannt«, bestätigte die Schattenfrau. Sie ging langsam über den Balkon, ihre Hüften wogten hin und her. »Es ist so lange her, dass ich hier war.« Ihre Finger strichen über die Oberfläche der Buchrücken, die im äußersten Regal standen.

      »Du warst hier?«, fragte Johanna. Sie wollte angreifen, doch gleichzeitig brannte die Neugier in ihr wie ein alles verzehrendes Feuer. Seit Jahrhunderten warf die Schattenfrau ihnen Knüppel zwischen die Beine. »Wer bist du?«

      »Keine Angst, das werdet ihr bald erfahren«, erwiderte die Feindin. »Aber ich mache nicht den Fehler, meine Pläne zu offenbaren, damit ihr mich in letzter Sekunde schlagen könnt. Nimm zum Beispiel das hier.« Sie hob das Kobaltpermit in die Höhe. »Ihr alle glaubt zu wissen, wozu ich es benötige.«

      »Du willst in das Archiv.«

      »Aber meine Liebe.« Die Schattenfrau stieß ein verzerrtes Lachen aus. »Keineswegs.« Ohne weitere Erklärungen warf sie den Stein hoch in die Luft, auf jene Stelle zu, wo sich die Tür zum Archiv befand; das Netzwerk aus Räumen, das die größten Schätze an altem Wissen der Lichtkämpfer enthielt. Sie hob den Essenzstab und rief: »Signa aeternum.«

      Johanna begriff, was die Schattenfrau in Wahrheit hier gewollt hatte. Ein gewaltiges schwarzes Wabern schoss aus der Spitze des Essenzstabes, raste auf die Tür des Archivs zu und legte sich darüber wie eine schützende Hülle. Nur war sie nicht zum Schutz gedacht.

      »Signa aeternum, das ewige Siegel«, flüsterte sie. Die Schattenfrau hatte mit Leonardos Permit den Schutz unterlaufen und verschloss nun alle Zugänge zum Archivnetzwerk. Sie schnitt die Lichtkämpfer von jenen Informationen ab, die dort eingelagert waren. Artefakte, Mentigloben, das Wissen der Archivare, nichts stand mehr zur Verfügung. Dafür nutzte sie keinen eigenen Zauber, denn der würde irgendwann zusammenbrechen. Nein, sie pervertierte den bestehenden Schutz, kehrte ihn um.

      »Siehst du«, sagte die Schattenfrau süffisant. »Ich will euer kostbares Archiv gar nicht betreten. Sag Leonardo liebe Grüße, er soll sich nicht ärgern. In seinem Alter ist das schlecht für den Blutdruck.«

      »Du hast den Wechselbalg ins Castillo eingeschleust, hast Max ersetzt, du hast das Erdbebenartefakt manipuliert, Gryff getötet und es mit Leonardo ebenfalls versucht. Ich werde dich nicht hier herausgehen lassen.« Sie ließ den Essenzstab hochschnellen. »Bis zum Ende.«

      »Ach, Johanna.« Die Schattenfrau seufzte. »Du bist immer so theatralisch. Versprich nie etwas, das du nicht halten kannst. Das mit dem Artefakt war eine nette Idee, oder? Doch die kam gar nicht von mir. Siehst du, der Wechselbalg stand in der Gestalt von Max direkt neben dir, als Leonardo das Erdbebenartefakt einsetzte.