war, hatte es sein Sigil nicht gewollt.
Allein bei der Vorstellung, erneut in den Raum zu gehen, überfiel ihn nackte Panik. Sie war nicht logisch zu erfassen, aber so intensiv, dass ihm abermals der Schweiß ausbrach. Lediglich die blasse, leblose Jen, die unten in der Küche lag und jeden Augenblick sterben konnte, ließ ihn die notwendige Kraft finden. Doch wie sollte er diese Pervertierung der Magie, diese Abnormität auslöschen? Er?! Ein neuerweckter Magier, der bis vor wenigen Tagen noch ein Nimag gewesen war. Vorsichtig näherte er sich dem Zentrum des Raumes, jederzeit bereit, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen.
Doch nichts geschah.
»Was bist du?«, flüsterte er mit rauer Stimme.
»Hallo?«, sagte jemand.
Alex zuckte zusammen. Blitzschnell wirbelte er herum, doch da stand niemand. Erst mit ein wenig Verzögerung wurde ihm bewusst, dass die Worte aus dem Kontaktstein an seinem Hals gedrungen waren und in seinem Kopf landeten. »Tilda?«
»Ja, genau. Ich habe mir den Kontaktstein von Jen geborgt. Du musst dich beeilen. Sie hat Krampfanfälle und fiebert. So war es auch bei den anderen. Gleich wird sie wie eine verschrumpelte Mumie in sich zusammenfallen.«
»Ich gebe mein Bestes.«
Er wollte sie noch fragen, wie sie Jens Kontaktstein überhaupt hatte nutzen können, er war die Erweiterung des Sigils und konnte daher, wie auch der Essenzstab, normalerweise nur von seinem Besitzer benutzt werden; außerdem besaß Tilda doch gar keine Essenz. Die Köchin des Castillos hatte die Verbindung allerdings wieder beendet und er hatte wahrlich andere Dinge zu tun, als dieser Sache jetzt auf den Grund zu gehen. Ein riesiges, gefräßiges Etwas auslöschen beispielsweise.
»Also gut, Kent, jetzt geht es um alles.«
Er hob den Essenzstab und richtete ihn auf das Artefakt. Ein Kraftschlag traf das Ding. Keine Reaktion. Er wob das Symbol und kombinierte es mit den Worten für den maximalen Kraftschlag. Wieder geschah nichts.
»Großartig, wirklich.«
Er ging näher heran. Aus dem Nichts entstand ein Gedanke in seinem Geist. Es war eine verwegene Idee, konnte aber erfolgreich sein. Bedauerlicherweise musste er dafür noch einmal in Kontakt mit dem unbekannten Ding treten.
Alex schluckte, steckte den Essenzstab hinter seinen Gürtel und streckte die Arme aus.
20. Ein Abschied auf Zeit
Der Schmerz des Aufpralls presste Johanna die Luft aus den Lungen. Anfängerfehler, fluchte sie lautlos. Niemals hätte sie auf dem gefährdeten Untergrund landen dürfen. Doch für Selbstvorwürfe war es zu spät.
Chloe verlor soeben das Bewusstsein.
Johanna riss ihren Stab empor und zeichnete blitzschnell ein Schutzsymbol. Gerade, als die Flammen nach der Lichtkämpferin griffen, wurde sie von einem schimmernden Gebilde umschlossen. Sie schwebte hinaus aus der Bibliothek.
Wie ein Rachedämon erhob sich die Schattenfrau. Holzscheite wurden zur Seite geschleudert. Zwischen Rauch und Feuer konnte Johanna fast nichts mehr sehen. Sie hörte Tomoe, die Worte brüllte. Albert antwortete. Die fernen Silhouetten von Ordnungsmagiern rannten umher.
»Man kann kaum glauben, dass ihr so lange überlebt habt«, höhnte die Schattenfrau. »Ein dilettantischer Haufen mit mehr Glück als Verstand.«
»Immerhin haben wir deine Flucht verhindert«, entgegnete sie.
»Du bist eine Närrin, Johanna von Orléans. So lange hast du bereits gelebt, so oft gesehen, wie das Böse sich erhebt, doch momentan bist du mit Blindheit geschlagen. Schau hinaus in die Welt. Nichts hat sich verändert! Der ewige Ablauf aus Tod und Verderben, Verrat und Einsamkeit. Die Menschen vegetieren in einem Leben dahin, von dem sie glauben, es biete ihnen Freiheit.« Sie lachte auf. »Eine Illusion.«
»Die Zerstörung des Walls würde nur eines bedeuten: Krieg. Magier würden einander offen bekämpfen, machtgierige Nimags einen Pakt mit der falschen Seite schließen.« Johanna spannte die Muskeln an, war jederzeit auf einen Angriff gefasst. »Die Welt ist, wie sie schon immer war. Es geht langsam und stetig in die richtige Richtung.«
»Die Welt hat mir alles genommen«, kam es flüsternd zurück. »Nun werde ich der Welt alles nehmen. Mein Ziel liegt nahe, keiner von euch kann mich noch aufhalten. Kämpft, so lange ihr wollt. Doch begreife, dass ich meinen Feinden stets einen Schritt voraus war und es auch immer sein werde.« Der Essenzstab verschwand im Nebelfeld.
Johanna formulierte die Worte für eine Transformation, um das Feuer um die Schattenfrau erstarren zu lassen, als diese sich einfach auflöste. Wenige Meter entfernt, hoch über ihr, erschien sie wieder. »Wie …?«
»So viele Geheimnisse, so viel Nichtwissen. Und du dachtest wirklich, ihr hättet eine Chance?«
Lachend schwebte ihre Feindin zum Portal, das aus dem Wechselbalg entstanden war. Lichtblitze schossen auf sie zu, erzeugt von den Ordnungsmagiern, Tomoe und Albert. Doch sie gingen daneben oder verpufften wirkungslos an dem Schutz, der die Schattenfrau umgab. Sie erreichte die geballte Schwärze, drang in sie ein und war fort. Kurz darauf diffundierte das Portal in ein feines Nebelgespinst – und verwehte.
In der Ferne krachte ein weiteres Regal zusammen.
Johanna kämpfte sich durch die Trümmer zur Tür. Sie griff nach ihrem Kontaktstein. »Albert, Tomoe.«
»Johanna?«, erklang die lautlose Stimme ihres Freundes. »Was ist passiert? Bist du in Ordnung?«
»Auf dem Weg in Richtung Tür«, sagte sie. »Evakuiert den Raum. Sie ist fort.«
Als sie den Ausgang endlich erreichte, waren die anderen beiden Unsterblichen bereits da.
Tomoe betrachtete sie von oben bis unten. »Du scheinst nicht verletzt zu sein.«
»Nur mein Stolz«, erwiderte sie. »Das Feuer hat keine Quelle mehr, die Ordnungsmagier müssen es löschen. Theresa kümmert sich um alle Verletzten. Albert, wir brauchen die anderen Ratsmitglieder und Lichtkämpfer.«
Johanna ließ alle Zauber verwehen und hob das Siegel um das Castillo auf. Schwer atmend sank sie an der Wand zu Boden. Der Stein verströmte angenehme Kühle.
»Sie hat uns hereingelegt«, fluchte Einstein, während er nach seinem Kontaktstein griff. Kurz darauf fiel das Siegel, das alles hermetisch abgeriegelt hatte.
»Und nicht zu knapp.« Johanna keuchte. Ihre Kondition war nicht die beste, sie hielt sich zu oft hier im Castillo auf. »Das Archiv versiegeln. Eine derartige Idee muss man erst mal haben.«
»Brillant«, gestand Tomoe zähneknirschend. »Damit schneidet sie uns von jedem Wissen ab; von allen älteren Aufzeichnungen. Meinst du, die Archivarin kann das Siegel von innen brechen?«
Johanna wiegte den Kopf in einer Geste der Unsicherheit hin und her. »Bisher haben sich die Angriffe der Schattenfrau als ziemlich wirksam entpuppt. Sie wird es zweifellos versuchen, aber wir müssen hier draußen auch alles daran setzen. Mit der vereinten Kraft des Rates wird es gelingen, da bin ich voller Hoffnung.«
Albert trat zu ihnen. »Eliot koordiniert seine Männer. Sie werden das Feuer in den Griff bekommen, aber es ist hartnäckig. Die Bibliothek ist verloren. Wir müssen alles neu aufbauen. Die Schriften sind natürlich verbrannt.«
Johanna schloss die Augen. Es war eine Sache, dass sie nicht mehr an eingelagertes Wissen herankamen, bis das Siegel der Schattenfrau aufgehoben war. Doch hier waren Unikate zerstört worden. Es gab keinen Ersatz. Einige dieser Werke hatte sie selbst zusammengetragen. »Es ist, wie es ist. Wir werden neues Wissen finden. Es gibt genug vergessene Schriften auf der Welt, geheime Bibliotheken und Katakomben. Wir werden Buch für Buch bergen. Außerdem werden die Archivare gewiss die eine oder andere Abschrift besitzen.«
»Falls sie noch am Leben sind«, sagte Tomoe. Die Freundin wirkte selbst mit zerzaustem Haar und rußgeschwärztem