Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik


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Es war nicht vorbei. Es dauerte einen Moment, bis er die Verbindung wahrnahm. Kevin hatte einen Avakat-Stern verfestigt. Die Essenz wurde übertragen, verhinderte das sofortige Aurafeuer, zögerte das Ende aber nur hinaus. Eine Aura konnte nicht von alleine heilen, das wusste Max.

      Er wurde wütend.

      Mit seiner Aktion brachte Kevin sie beide um. Mochte es auch eine aus Liebe geborene Tat sein, so warf er doch sein Leben fort. Und wozu? Für ein paar letzte Sekunden der Gemeinsamkeit, ein Hinauszögern?!

      »Warum hast du das getan?«, flüsterte Max.

      Aber Kevin hörte ihn nicht. Er begriff allmählich, dass sie beide dem Feuer entgegengingen. Max hatte sich damit abgefunden. Er wollte etwas sagen, doch in diesem Augenblick betrat eine Frau den Raum.

      Theresa sagte kein Wort.

      Sie kam mit dem Essenzstab zu dem Loch, das vom Aurafeuer in die Wand seines Verlieses gesprengt worden war und stieg zu ihm hinein. Ihren Stab schwenkte sie über seine Aura, während sie leise Worte der Macht murmelte. Er konnte spüren, wie der Prozess begann. Dank Kevins gespendeter Essenz und ihrer Heilmagie wurde eine Genese eingeleitet. Minuten vergingen, wurden zu Stunden. Mit jedem Schritt der Heilung vermochte Kevin die Verbindung über den Avakat-Stern ein wenig zurückzufahren. Schließlich kam sie zu einem Ende. Seine Aura, mochte sie auch hauchdünn und schwach sein, war neu erstanden, der Avakat-Stern wurde aufgelöst. Max wollte erneut etwas sagen, doch aus seinem Mund kam nur ein Stöhnen. Er brach in die Knie.

      Sein Bewusstsein versank in gnädiger Schwärze.

      22. Erlösung

      Es gab Umarmungen, an die er sich gerne erinnerte. Da war sein erster Kuss zum Beispiel. Zugegeben, damals hatte er keine große Wahl gehabt. Molly Cartridge hatte ihn in der fünften Klasse kurzerhand gepackt und die Lippen auf seine gedrückt. Danach war sie zufrieden grinsend zu ihren Freundinnen geeilt.

      Nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte, hatte er das Gleiche mit Isabelle La Salle ausprobiert. Die hatte ihm so fest eine gescheuert, dass er im Pausenhof in den nächsten Busch geflogen war. Trotzdem hatte er gegrinst.

      Natürlich dachte er auch gerne an die Umarmung von Phoebe zurück, mit der er sein erstes Mal gehabt hatte. Und das zweite und das dritte.

      Eines war für Alex völlig klar: Die heutige Umarmung würde er ebenfalls nie vergessen. Wenn auch deshalb, weil sie auf Platz eins der furchtbarsten Ereignisse in seinem bisherigen Leben wanderte.

      Der Raum wich zurück, mutierte zu einer allumfassenden Schwärze, die von düsterem Rot durchzogen wurde. Er schwebte in diesem Nichts. Das Gefühl zu fallen überkam ihn, beinahe hätte er sich zu einer wimmernden Kugel zusammengerollt. Doch damit wäre es wohl vorbei gewesen. Also hielt Alex die Augen offen, schaute das Artefakt frontal an und legte die Finger auf das Holz.

      Hinter seiner Stirn explodierte ein greller Schmerz. Stimmen erschollen. Ein Gewirr aus Bildern prasselte auf ihn ein. Immer mehr der fremden Bewusstseinsinhalte preschten voran, wollten sein eigenes Ich zurücktreiben. Alex musste all seine Kraft aufbieten, nicht nachzugeben. Nur langsam gewann er die Oberhand. Er konnte individuelle Persönlichkeiten ausmachen. Amon. Walther. Falk. Sie alle waren da.

      Damit wurde auch die Funktionsweise des Artefaktes klar. Es handelte sich um ein Gefängnis. Eines für Sigile. Verbunden mit einem Magier zehrte es ihn aus, bis – normalerweise – das Aurafeuer entstand. Dann riss es das Sigil an sich und verhinderte so, dass ein neuer Erbe erwählt wurde. Da es das Sigil aber nicht zerstörte, blieb das Gleichgewicht gewahrt. Alex erschrak. Das Ding war ein Schlupfloch. Denn natürlich wurde die Balance zwischen Gut und Böse nicht gewahrt. Theoretisch hätte das Sigil von jedem ausgelöschten Lichtkämpfer darin gefangen werden können.

      Er tastete umher. Da waren mehr, viel mehr. Sigile, die vor Jahrhunderten eingefangen worden waren. Lichtkämpfer, ebenso Schattenkrieger; Hunderte auf beiden Seiten. Das Ding musste zerstört werden, bevor Jen sich dazugesellte.

      Natürlich stürzten sie sich weiter auf ihn. Er hatte einen Körper, den der Stärkste unter ihnen würde beseelen können, so zumindest hofften sie. Nicht nur die Sigile waren hier gefangen, das Artefakt hatte auch das jeweilige Bewusstsein gebunden. Das war es vermutlich, was das Gleichgewicht aufrechterhielt.

      »Echt jetzt, die haben alle einen Knall«, murmelte er. »Wie kann man nur solches Zeug erschaffen.« Er hatte gelesen, dass es auch eine Vorlesung zu diesem Thema gab. Das sollte er unbedingt besuchen, falls es endlich mal einen Zeitpunkt gab, an dem er nicht in Lebensgefahr schwebte.

      Er näherte sich dem Kern des Artefaktes.

      Der Ansturm der Bewusstseine wurde intensiver. Voranzukommen wurde immer schwerer. Plötzlich schwebte er nicht länger in der Schwärze. Stattdessen stand Alex auf einem weiten Hof, der von einer hohen Mauer eingezäunt wurde. Es goss in Strömen. Er machte einen Schritt voran und versank bis zu den Knöcheln im Schlamm.

      Ein Blitz zuckte.

      Im Schein der Naturgewalt standen sie plötzlich überall um ihn herum. Bleiche, ausgemergelte Kreaturen, die kaum noch als Lichtkämpfer oder Schattenkrieger erkennbar waren. Sie trugen die Kleidung der jeweiligen Zeit, in der sie gestorben waren. In ihren Augen leuchtete Gier. Sie wollten ihn. Nicht hier drin, nicht als Teil der Opfer, sondern dort draußen. Sein Körper verhieß Freiheit. Ihr Geist war verwirrt von der langen Zeit.

      »Hey, Leute.« Er wich zurück an die Mauer. »Man kann doch über alles reden.«

      Ein weiterer Blitz zuckte.

      Sie stürmten auf ihn zu, eine wogende Wand aus Leibern. Hände ergriffen ihn, zerrten an ihm. Fratzen erschienen in seinem Gesichtsfeld, wurden fortgerissen und ersetzt von anderen. Sie wussten, dass am Ende nur einer den Sieg davontragen konnte. Alex wurde zu Boden gedrückt. Sie waren überall. Er versank in dem Meer aus Tod und Verhängnis. Irgendwann konnte er den Himmel nicht mehr sehen, unter ihm war nur noch der schlammige Matsch des Hofes.

      »Das alles hier ist nicht echt.« Die Gewissheit war da, doch sie half kaum weiter. Was sollte er gegen eine solche Gewalt anrichten? Die Masse der Leiber konnte ihn körperlich in die Tasche stecken.

      Körperlich.

      All das hier war nicht real! Kraft ging vom Geist aus. Eine tolle Erkenntnis. Doch er war müde, wollte sich treiben lassen. Fort von Kampf und immer wieder neuen Grausamkeiten. Er verfing sich in der Wärme des Loslassens.

      Vor seinem inneren Auge entstanden Bilder.

      Alfie, der mit einer Waffe in der Hand einen Gang-Chef anbrüllte. Sein Bruder war ohne ihn verloren.

      Mum, die auf der Couch lag und schlief, die Zigarette noch in der Hand, die das Potenzial barg, die gesamte Wohnung abzufackeln.

      Jen, die bleich und verschwitzt dem Tod entgegentrieb.

      Er bäumte sich auf, schleuderte die Leiber mit der Kraft seines Geistes von sich. Der Hof verschwand. Wieder schwebte er in der allumfassenden Schwärze. Der Kern des Artefaktes lag direkt vor ihm. Es wollte ihn nicht, das spürte er ganz deutlich. Doch er kam.

      »Hey, Schatz, lange nicht gesehen.« Ohne weiter darüber nachzudenken, drängte er den Ekel zurück, warf sich in die schleimige Schwärze und riss sie an sich.

      Die Reaktion hätte nicht stärker ausfallen können. Ein gutturaler Laut ertönte, so tief, uralt und grausam, dass Alex' Körper wimmernd zusammensackte. Pure Angst erfasste sein Denken. Doch es war ein Todesschrei. Das Artefakt zerbarst. Er konnte spüren, wie die Bewusstseine der Lichtkämpfer und Schattenkrieger verwehten, als sie endlich ihre ewige Ruhe fanden.

      Die Sigile rasten fort.

      Er lag wimmernd am Boden, lächelte jedoch zufrieden. In den nächsten Stunden würden überall auf der Welt neue Lichtkämpfer und Schattenkrieger entstehen. Die Sigile suchten sich ihre Erben.

      »Ha, ich bin nicht mehr der neueste.«

      Er