sich entziehen könne. Auch der Baumeister fand, daß die Welponers keineswegs zu einem gemütlichen Verkehr geschaffen seien, und seine Frau war der Ansicht, daß daran vor allem der Hochmut der Frau Direktor schuld sei, die es übrigens aus allerlei Gründen wahrhaftig nicht nötig habe. Das Gespräch verstummte, als an einer Wegbiegung auf einer wurmstichigen, lehnenlosen Bank plötzlich der Herr Direktor sichtbar wurde. Er erhob sich, und über seiner Piqueweste am schmalen Seidenband pendelte das Monokel. Er sei so frei gewesen, sagte er, den Herrschaften entgegenzugehen, und gestatte sich im Namen seiner Gattin, die Einladung zu einer kleinen Jause zu überbringen, die der müden Wanderer auf der schattigen Terrasse harre. Zugleich ließ er seine trüben Blicke von einem zum andern gleiten, Beate merkte, wie sie über Bertrams Antlitz sich auffallend verdunkelten, und sie wußte plötzlich, daß der Direktor auf den jungen Mann eifersüchtig war. Sie verbat sich das innerlich, als Anmaßung und Torheit zugleich. Ruhig, ohne Anfechtung wandelte sie durchs Dasein, in unbeirrter Treue jenes Einzigen denkend, dessen Stimme ihr heute noch, in der Erinnerung, hallender über die Höhe klang, als alle Stimmen Lebendiger zu klingen, dessen Blick ihr heute noch heller leuchtete, als alle Augen Lebendiger zu leuchten vermochten.
Der Direktor blieb mit Beate zurück. Er redete zuerst von den kleinen Angelegenheiten des Tages: von neu angekommenen flüchtigen Bekannten, vom Tode des Mühlbauern, der fünfundneunzig Jahre alt geworden war, von dem häßlichen Landhaus, das sich ein Salzburger Architekt drüben im Auwinkel baute, und kam wie zufällig auf jene Zeit zu sprechen, da weder seine eigne, noch die Heinoldsche Villa existiert und die beiden Familien sommerlang unten im Seehotel gewohnt hatten. Er gedachte gemeinsamer Ausflüge auf damals noch wenig begangenen Wegen, einer Segelpartie mit der »Roxane«, die gar gefährlich in Sturm und Wetter geendet, sprach von dem Einweihungsfest der Heinoldschen Villa, bei dem Ferdinand zwei seiner Kollegen unter den Tisch getrunken hatte, und endlich von der letzten Rolle Ferdinands in einem modernen, im ganzen ziemlich peinlichen Stück, worin dieser einen Zwanzigjährigen so vollendet dargestellt hatte. Was für ein unvergleichlicher Künstler war er doch gewesen, was für ein herrliches Menschenexemplar! Ein Jugendmensch durfte man wohl sagen. Ein wundervoller Gegensatz zu jener Art von Leuten, unter die er selbst sich leider rechnen müßte und die nicht geschaffen waren, sich oder andern Glück zu bringen. Und als Beate ihn fragend von der Seite ansah: »Ich, liebe Frau Beate, ich bin nämlich ein Altgeborener. Sie wissen nicht, was das heißt? Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Sehen Sie, wir Altgeborenen, wir lassen im Laufe unseres Daseins gleichsam eine Maske nach der andern fallen, bis wir, als Achtzigjährige etwa, manche wohl etwas früher, der Mitwelt unser wahres Gesicht zeigen. Die andern, die Jugendmenschen, und so einer war Ferdinand,« ganz gegen seine Gewohnheit nannte er ihn beim Vornamen, »bleiben immer jung, ja Kinder, und sind daher genötigt, eine Maske nach der andern vors Gesicht zu nehmen, wenn sie unter den andern Menschen nicht allzusehr auffallen wollen. Oder sie gleitet von irgendwoher über ihre Züge und sie wissen selber gar nicht, daß sie Masken tragen, und haben nur ein wunderliches dunkles Gefühl, daß irgend etwas in der Rechnung ihres Lebens nicht stimmen kann … weil sie sich immer jung fühlen. So einer war Ferdinand.« Beate hörte dem Direktor gespannt, aber mit innerem Widerstand zu. Es drängte sich ihr auf, daß er Ferdinands Schatten mit Absicht heraufbeschwor, als wäre er bestellt, über ihre Treue zu wachen und sie vor einer nahenden Gefahr zu warnen und zu behüten. Wahrhaftig, die Mühe konnte er sich sparen. Was gab ihm das Recht, was den Anlaß, sich in solcher Weise zum Anwalt und Schützer von Ferdinands Andenken auf zu werfen? Was in ihrem Wesen forderte zu so verletzender Mißdeutung heraus? Wenn sie heute mit den Heitern mitzuscherzen und mitzulachen vermochte und lichte Farben trug wie früher einmal, so konnte doch darin kein Unbefangener anderes erblicken als den bescheidenen Zoll, den sie dem allgemeinen Gesetz des Weiter-und Mitlebens darzubringen schuldig war. Aber jemals Glück oder Lust zu empfinden, jemals wieder einem Manne anzugehören, an eine solche Möglichkeit konnte sie auch heute nicht ohne Widerwillen, ja ohne Grauen denken; und dieses Grauen, sie wußte es von mancher schlaflos einsamen Nacht her, durchwühlte sie nur tiefer, wenn unbestimmte Regungen der Sehnsucht durch ihr Blut rauschten und ziellos vergingen. Und wieder sah sie den Direktor, der nun schweigend an ihrer Seite einherging, flüchtig an, aber erschreckt beinahe spürte sie um ihre Lippen ein Lächeln, das aus dem Grunde ihrer Seele gekommen war, ohne daß sie es gerufen, und das untrüglich, beinahe schamlos, deutlicher als alle Worte, sprach: Ich weiß, daß du mich begehrst, und ich freue mich daran. Sie sah in seinen Augen ein Aufblitzen, wie eine heiße Frage, gleich darauf aber ein Sichbescheiden und Trübewerden. Und er richtete ein gleichgültig höfliches Wort an Frau Arbesbacher, die nur zwei Schritte vor ihnen ging, da die kleine Wandergruppe nun, da man dem Ziele sich näherte, allmählich wieder ineinandergeflossen war. Plötzlich war der junge Doktor Bertram an Beatens Seite und legte etwas in Haltung, Blick und Rede, als hätten sich auf diesem Ausflug die Beziehungen zwischen ihm und Beate enger geknüpft, und dies Ergebnis zu seinen Gunsten müßte auch von ihr empfunden und festgestellt werden. Sie aber blieb kühl und fremd, wurde fremder von Schritt zu Schritt. Und als man vor dem Gartentor der Welponerschen Villa angelangt war, erklärte sie zum allgemeinen und ein wenig auch zu ihrer eigenen Überraschung, daß sie müde sei und es vorziehe, sich nach Hause zu begeben. Man versuchte sie umzustimmen. Da aber der Direktor selbst nur ein trockenes Bedauern äußerte, drang man in sie nicht weiter. Sie ließ es dahingestellt, ob sie sich zu dem gemeinsamen Abendessen im Seehotel einfinden werde, das auf dem Wege verabredet worden war, hatte aber nichts dagegen, daß Hugo in jedem Falle daran teilnehme. »Ich werd’ schon Obacht geben,« sagte der Baumeister, »daß er sich keinen Rausch antrinkt.« Beate empfahl sich. Ein Gefühl großer Erleichterung kam über sie, als sie nun den Weg nach Hause einschlug, und sie freute sich auf die paar ungestörten Stunden, die ihr gewiß waren.
Daheim fand sie einen Brief von Doktor Teichmann und verspürte ein leichtes Staunen, weniger darüber, daß der wieder ein Lebenszeichen von sich gab, als vielmehr, daß sie ihn im Laufe der letzten Zeit fast bis auf die Tatsache seiner Existenz vergessen hatte. Erst nachdem sie sich vom Staub des Tages befreit und im bequemen Hauskleid vor dem Toilettetischchen in ihrem Schlafzimmer saß, öffnete sie den Brief, auf dessen Inhalt sie durchaus nicht neugierig war. Am Beginn standen wie meistens Mitteilungen geschäftlicher Natur, denn Teichmann legte Beate gegenüber Wert darauf, vor allem als ihr Rechtsanwalt zu gelten, und mit etwas gewundenem Humor erstattete er Bericht über den Verlauf eines kleinen Prozesses, in dem es ihm gelungen war, für Beate eine unbedeutende Geldsumme zu retten. Am Schluß erwähnte er in absichtlich beiläufigem Tone, daß ihn seine Ferienwanderung auch an der Villa am Eichwiesenweg vorbeiführen werde, und wollte der Hoffnung sich nicht gänzlich verschließen, wie er schrieb, daß ihm durchs Gesträuch ein helles Kleid oder gar ein freundliches Auge entgegenleuchten und ihn zum Verweilen einladen könnte, wäre es auch nur zu einer Plauderstunde zwischen Tür und Angel. Er vergaß auch nicht Grüße beizufügen »an den biedern Baumeister und den gebieterischen Schloßherrn samt wertem Anhang«, wie er sich ausdrückte, und an die übrigen Bekannten, denen er anläßlich seines vorjährigen dreitägigen Aufenthaltes im Seehotel vorgestellt worden war. Beate empfand es als seltsam, daß ihr jenes vorige Jahr fern und wie unter einem andern Himmelsstrich ihres Lebens gelegen erschien, trotzdem sich ihr Dasein äußerlich kaum anders abgespielt hatte als in diesem Sommer. Auch an Galanterien von Seiten des Direktors und des jungen Doktor Bertram hatte es nicht gefehlt. Nur daß sie selbst zwischen all den Blicken und Worten wie unberührt dahingewandelt war, ja, daß sie sie damals kaum bemerkt hatte und nun erst in der Erinnerung ihrer bewußt wurde. Dies mochte freilich auch darin seinen Grund haben, daß sie in der Stadt mit all diesen Sommerbekannten kaum einen wirklichen Verkehr pflegte; dort führte sie seit dem Tode ihres Gatten, nachdem sich der frühere Kreis der Künstler und Theaterfreunde allmählich aufgelöst hatte, ein zurückgezogenes und einförmiges Leben. Nur ihre Mutter, die in einem Vorort das alte Stammhaus nahe der einst vom Vater geleiteten Fabrik bewohnte, und einige entferntere Verwandte fanden den Weg zu ihrem stillen und wieder sehr bürgerlich gewordenen Heim; und wenn Doktor Teichmann einmal zu einer Tee-und Plauderstunde erschien, so bedeutete das für sie schon eine Zerstreuung, der sie sich, wie sie jetzt mit einiger Verwunderung inneward, geradezu entgegenfreute.
Kopfschüttelnd legte sie den Brief hin und blickte in den Garten, über den die frühe Dämmerung des Augustabends sich breitete. Das Wohlgefühl des Alleingebliebenseins war allmählich in ihr abgeflaut; und sie überlegte, ob es nicht das klügste wäre, zu Welponers oder