fahren sollte, halb scherzhaft gebeten hatte, lieber gleich dort zu bleiben, als heute abend, wie seine Absicht war, wieder zurückzukehren? War die eifersüchtige Ahnung in ihm erwacht, daß er bei all seinem Jugendreiz nicht mehr für sie bedeutete als einen hübschen frischen Knaben, den man ohne weiteres nach Hause schicken konnte, wenn das Spiel zu Ende war? Oder hatte er nur seiner Neigung zu indiskretem Geschwätz nachgegeben, die sie ihm manchmal schon verweisen mußte, so neulich erst, als er Lust zeigte, von Hugos Stelldichein mit Fortunaten des näheren zu berichten? Oder war das Gespräch zwischen Fritzens Eltern, das er kürzlich erlauscht haben wollte, gar nur eine Erfindung seines phantasievollen Kopfes, wie sich ja auch sein Besuch im Seziersaal, den er am Tage seiner Ankunft geschildert, neuerdings als eitel Prahlerei herausgestellt hatte? Aber, selbst angenommen, er hätte von dem Gespräch seiner Eltern im guten Glauben erzählt, konnte er es nicht falsch gehört oder falsch gedeutet haben? Diese letzte Vermutung hatte um so größere Wahrscheinlichkeit für sich, als zu Beaten bisher von jenem Gerücht auch nicht der leiseste Hauch gedrungen war.
In solchen Gedanken war Beate vor ihrer Villa angelangt. Da Hugo angeblich einen Ausflug unternommen und das Mädchen ihren freien Sonntag hatte, fand sich Beate allein zu Hause. In ihrem Schlafzimmer entkleidete sie sich, und einer dumpfen Müdigkeit nachgebend, die nun in diesen Nachmittagsstunden oft über sie kam, streckte sie sich auf ihr Bett hin. Des Alleinseins, der Stille, des sehr gedämpften Lichts mit Bewußtsein genießend, lag sie eine Zeitlang mit offenen Augen da. In dem schiefgestellten Ankleidespiegel ihr gegenüber, in verschwommenen Umrissen, erschien das lebensgroße Brustbild ihres verstorbenen Gatten, so wie es über ihrem Lager hing. Doch deutlich sah sie nur einen mattroten Fleck hervortreten, von dem sie wußte, daß er die Nelke im Knopfloch vorstellte. In der ersten Zeit nach Ferdinands Tod hatte dieses Bild für Beate ein seltsam eigenes Leben weitergeführt. Sie hatte es lächeln oder trübe blicken, heiter oder schwermütig gesehen; ja manchmal war ihr gewesen, als spräche aus den gemalten Zügen in geheimnisvoller Weise Gleichgültigkeit oder Verzweiflung über den eigenen Tod. Im Lauf der Jahre war es freilich stumm und verschlossen worden; blieb eine gemalte Leinwand und nicht mehr. Heute aber, in dieser Stunde, schien es wieder leben zu wollen. Und ohne daß es Beate im Spiegel scharf zu sehen vermochte, war ihr doch, als sendete es einen spöttischen Blick über sie hin, und Erinnerungen wachten in ihr auf, die, harmlos oder gar heiter bisher, sich mit neuen, höhnischen Gebärden vor ihre Seele drängten. Und statt der Einen, auf die ihr Verdacht gelenkt worden war, zog eine ganze Reihe von Frauen an ihr vorüber, die, zum Teil bis auf die Gesichtszüge vergessen, vielleicht alle, wie sie mit einem Male denken mußte, Ferdinands Geliebte gewesen waren, — Verehrerinnen, die sich Autogramme und Photographien geholt, junge Künstlerinnen, die Unterricht bei ihm genommen, Damen der Gesellschaft, in deren Salon er und Beate verkehrt hatten, Kolleginnen, die auf der Bühne als Gattinnen, Bräute, Verführte ihm in die Arme gesunken waren. Und sie fragte sich, ob es nicht sein Schuldbewußtsein gewesen war, das, ohne ihn weiter sonderlich zu bedrücken, ihn doch mit so weise scheinender Milde gegen Treulosigkeiten Beatens erfüllte, die sie später etwa an seinem Andenken verüben mochte. Und mit einem Male, als hätte er die nutzlos unbequeme Maske abgeworfen, die er als Lebendiger und Toter lange genug getragen, stand er mit seiner roten Knopflochnelke vor ihrer Seele als ein geckischer Komödiant, dem sie nichts gewesen war als die tüchtige Hausfrau, die Mutter seines Sohnes und ein Weib, das man eben manchmal wieder umarmte, wenn es in lauer Sommernacht der matte Zauber des Nebeneinanderseins so fügen wollte. Und so wie sein Bild war ihr mit einem Male auch seine Stimme unbegreiflich verändert. Sie schwang nicht mehr in dem edeln Hall, der ihr noch in der Erinnerung herrlicher tönte als die Stimme aller Lebendigen; sie klang leer, affektiert und falsch. Doch plötzlich, erschreckt und aufatmend zugleich, ward ihr bewußt, daß es wirklich nicht seine Stimme war, die eben in ihrer Seele klang, sondern die eines andern, eines, der neulich sich unterfangen, hier in ihrem Hause sich unterfangen hatte, Organ, Tonfall und Gebärden ihres verstorbenen Gatten nachzuäffen.
Sie richtete sich im Bette auf, stützte den Arm auf die Polster und starrte entsetzt in das Dämmer des Gemachs. Jetzt erst in der völligen Ungestörtheit dieser Stunde trat ihr jenes Geschehnis in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit vor die Seele. Vor acht Tagen war es gewesen, an einem Sonntag wie heut, sie war im Garten gesessen in Gesellschaft ihres Sohnes und — mit verzerrten Lippen dachte sie das Wort — ihres Geliebten; da war mit einemmal ein junger Mensch erschienen, groß, brünett, mit blitzenden Augen, im Touristenanzug, mit grüngelbroter Krawatte, — den sie nicht erkannte, ehe die freudige Begrüßung durch die beiden anderen jungen Leute ihr zu Bewußtsein brachte, daß Rudi Beratoner vor ihr stand, derselbe, der im vergangenen Winter Hugo ein paarmal besucht hatte, um Bücher von ihm zu leihen, und von dem sie wußte, daß er einer von den zweien war, die nach Hugos Bericht eine Frühjahrsnacht im Prater mit leichtsinnigen Frauenzimmern durchschwärmt hatten. Er kam heute geradeswegs aus Ischl, wo er Fritz im Hause von dessen Eltern vergeblich gesucht hatte, und man behielt ihn natürlich zum Mittagessen da. Er gab sich lustig, überlaut, zeigte sich besonders unermüdlich im Erzählen von Jagdgeschichten und Anekdoten aller Art, und die beiden jüngeren Kameraden, die seiner Frühreife gegenüber einen fast knabenhaften Eindruck machten, sahen in Bewunderung zu ihm auf. Auch zeigte er eine Trinkfestigkeit, die über seine Jahre ging. Da die Freunde ihm nicht nachstehen wollten, und sogar Beate sich verlocken ließ, mehr zu trinken als gewöhnlich, wurde die Stimmung bald ungezwungener, als sonst in diesem Hause üblich war. Beaten, die sich durch das bei aller Lustigkeit ihr gegenüber durchaus respektvolle Benehmen des Gastes angenehm berührt, ja dafür dankbar fühlte, erging es übrigens, wie manchmal in diesen Tagen, daß alles, was in der letzten Zeit geschehen war und an dessen Wirklichkeit sie nicht zweifeln konnte, ihr irgendwie als Traum oder doch als etwas wieder Gutzumachendes erschien. Es kam ein Augenblick, da sie, wie oft in früherer Zeit, den Arm um Hugos Schultern geschlungen hielt und mit den Fingern in seinen Haaren spielte, zu gleicher Zeit aber Fritz zärtlich lockend in die Augen sah und dabei über sich und die Welt sonderbar gerührt war. Später merkte sie, daß Fritz mit Rudi Beratoner angelegentlich flüsterte und ihm zu irgend etwas dringend zuzureden schien. Sie fragte wie scherzend, was denn die jungen Herren miteinander für gefährliches Zeug zu tuscheln hätten; Beratoner wollte mit der Sprache nicht heraus, Fritz aber erklärte, es sei nicht einzusehen, warum man nicht davon reden sollte; die Tatsache sei ja allgemein bekannt, daß Rudi Schauspieler vortrefflich zu kopieren verstehe, nicht nur die lebendigen, sondern auch die — Nun aber stockte er. Doch Beate, im tiefsten erregt und schon in leichtem Rausch, wandte sich hastig an Rudi Beratoner, und etwas heiser fragte sie: »Da können Sie also auch Ferdinand Heinold kopieren?« Sie nannte den berühmten Namen, als gehöre er einem Fremden zu. Beratoner wollte es nicht Wort haben. Er begreife den Fritz überhaupt nicht, früher einmal habe er solche Späße getrieben, aber jetzt schon lange nicht mehr; auch habe er Stimmen, die er seit Jahren nicht gehört, selbstverständlich nicht mehr im Ohr, und wenn es schon sein müßte, so wollte er doch lieber irgendein Couplet in der Art eines beliebigen Komikers singen. Aber Beate ließ die Ausflüchte nicht gelten. Sie fühlte nichts anderes mehr als den Wunsch, die Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Sie zitterte vor Verlangen, die geliebte Stimme, wenigstens im Abglanz, wieder zu hören. Daß dies Verlangen etwas Lästerliches bedeuten könnte, kam ihr im Nebel dieser Stunde kaum zu Bewußtsein. Endlich ließ Beratoner sich erbitten. Und klopfenden Herzens hörte Beate zuerst Hamlets Monolog »Sein oder Nichtsein« in Ferdinands heroischem Tonfall durch die freie Sommerluft klingen, dann Verse aus dem Tasso, dann irgendwelche längst vergessene Worte aus einem längst vergessenen Stück; hörte das Aufdröhnen und Hinschmelzen jener heißgeliebten Stimme und trank sie geschlossenen Auges wie ein Wunder in sich ein, bis es plötzlich, noch immer wie mit Ferdinands Organ, aber jetzt in seinem wohlbekannten Alltagston hart an ihrem Ohr erklang: »Grüß Gott, Beate!« Da riß sie, tief erschrocken, die Augen auf, sah hart vor sich ein frech verlegenes Gesicht, um dessen Lippen noch einen vergehenden Zug, der gespenstisch an Ferdinands Lächeln mahnte, begegnete einem irren Blick Hugos, einem dumm-traurigen Grinsen um Fritzens Mund und hörte sich selbst wie aus weiter Ferne ein höfliches Wort der Anerkennung an den vortrefflichen Stimmkopisten richten. Das Schweigen, das nun folgte, war dunkel und lastend; sie ertrugen es alle nicht lang, und gleich wieder schwirrten gleichgültig lustige Worte von Sommerwetter und Ausflugsfreuden hin und her. Beate aber erhob sich bald, zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie verstört in ihren Fauteuil sank und dann in einen Schlaf fiel, aus dem sie nach kaum einer Stunde, doch wie aus