Alexander von Humboldt

Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829


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MOSKAU

       »Ewige Repräsentation«

      Eine Stunde vor Moskau kamen sie am Petrowskischen Palast vorbei, in dem sich Napoleon während des Brandes der Stadt aufgehalten hatte. Er hatte ihn bei seinem Abzug niederbrennen lassen. Jetzt war er schon wieder aufgebaut.97 Die Silhouette Moskaus, die vielen Türme und der Kreml hoben sich immer klarer aus der Ebene. Jede Kirche hatte mehrere Türme und einen Glockenturm. Im Ganzen ragten 600 Türme auf, in Kuppel- oder Minarettform, vergoldet oder grün gestrichen. Sie waren alle aus Stein erbaut und hatten den großen Brand von 1812 überlebt. Humboldt meinte, der eigentümliche Baustil des Kremls ließe sich kaum beschreiben. Er sah »ein großes historisches Monument« in ihm, das die Einbildungskraft lebhafter anspreche »als Karamsin’s großes Geschichtsbuch«.98 »Die Worte byzantinisch, gotisch kennzeichnen ihn kaum. Es gibt in Moskau pyramidenförmige Türme mit Etagen wie in Indien und auf Java.« Die Stadt schien ihm ihre Eigenart »zum großen Teil« verloren zu haben.99

      Humboldt drängte in Moskau zum baldigen Aufbruch, um die günstige Jahreszeit für Untersuchungen auszunützen; außerdem sollte die Stadt auf der Rückfahrt nochmals besucht werden. Doch Humboldts Jugendfreund Fischer v. Waldheim und sein Lehrer in der Anatomie im Jahre 1797, Just Christian Loder, ließen ihm mit dringenden Einladungen keine Wahl. Fischer führte den Titel Excellenz und leitete die naturwissenschaftlichen Sammlungen im Universitätsgebäude, die in großen Sälen »schön und zweckmäßig« untergebracht worden waren.100 Die Sammlungen litten immer noch unter den Verlusten des Jahres 1812. Man hatte deshalb z.B. die mineralogische Kollektion Johann Karl Freieslebens erworben, die aus über 8000 einzelnen Stücken bestand, hatte aber die eigenen lokalen Mineralien noch nicht wieder genügend zusammengestellt. In der zoologischen Sammlung bewunderten sie einen sibirischen Tiger. Loders anatomische Kollektion war die »Hauptzier«. Fischer hatte in seiner Privatsammlung vor allem Stücke aus der Umgebung Moskaus, da er das Gouvernement naturhistorisch beschreiben wollte. Am 26. Mai 1829 wurden sie durch die Universität geführt und lernten ihre Einrichtungen, Kabinette und Anstalten kennen, die Humboldt »zu den ersten in Europa« rechnete.101 Am 27. Mai gaben ihm die Mitglieder der Universität »in einem überaus großen und schönen Saale« ein Diner. Humboldt strengte »diese ewige Repräsentation« sehr an. Er fand den »guten Fischer, der mit seinen 5 Kindern Excellenz ist, vierspännig fährt und nur 7000 Francs Pension« erhielt, »schwatzhaft und eitel wie Loder«.102 Man hatte Männer aller Berufe, besonders auch den Adel eingeladen. »Böswillige« hatten das Gerücht ausgestreut, die Aristokratie werde die Einladung übergehen, sahen sich aber getäuscht. Ein russischer Augenzeuge bedauerte,103 dass man Humboldt keinen Dolmetscher beigegeben habe. Er hätte von einem russischen Gelehrten mehr erfahren können, »als von denen, mit denen er nicht russisch sprach«. Man hätte ihm das Nationale zeigen sollen, russisches Essen, russische Musik, damit er die Ansätze, die zu Hoffnungen berechtigten, hätte sehen können. Man hätte Humboldt mit Männern zusammenbringen sollen, die ihn als Gelehrten und Philanthropen interessieren mussten. Viele bedauerten, dass er nur so kurze Zeit in Russland bleiben wolle, aber sie vergäßen seine Schulung im Beobachten. Für ein russisches Herz sei es schmerzlich, dass man die Erforschung des Landes immer noch Ausländern überlassen müsse; »muß man jedoch«, fuhr der russische Augenzeuge fort, »irgendeinem diese schmeichelhafte Ehre abtreten, so am ersten Humboldt«.104 Loder brachte einen Toast auf ihn aus, und von allen Seiten ertönte es: Vivat Humboldt, vivat! Der Dozent Klin hatte ein lateinisches Gedicht auf ihn verfasst, das man ihm gedruckt mitgab. Es fehlte nicht an »unnötigem Glanz«.105 Loder schrieb am 30. August 1829 an Goethe: »Der Besuch des Herrn von Humboldt hat, so kurz er auch war, doch mir und vielen andern Freude gemacht. Ich hatte glücklicherweise Zeit genug gefunden, ihm ein großes und sehr glänzendes Diner in dem prächtigen Locale der adelichen Versammlung zu Stande zu bringen, zu welchem die vornehmsten Personen der Stadt nebst verschiedenen Gelehrten und Kaufleuten beigetragen hatten, sodaß über 80 Personen dabei waren. Daß er dabei in Prosa und Versen haranguirt ward, und daß Pauken und Trompeten dabei erschallten, das versteht sich von selbst. Das Sprichwort: praesentia minuit famam fand bei ihm nicht statt: durch seine Humanität und durch seine ebenso angenehme als lehrreiche Unterhaltung, auch durch seinen Ton und Anstand hat er sowol hier als zu St. Petersburg jedermann entzückt, sowie er auch von dem Monarchen selbst auf die ausgezeichnetste Weise aufgenommen worden ist. Wie er mir vor kurzem aus Sibirien geschrieben hat, so dürfen wir hoffen, ihn im September oder October auf eine etwas längere Zeit bei uns zu sehen.«106

       Straße in Moskau

      Gustav Rose hat in seinen späteren Bänden (siehe 174 ff.) 150 Persönlichkeiten nicht genannt, denen Humboldt in Russland begegnete (P. Honigmann 1983); unter ihnen befinden sich der Weltumsegler Admiral Adam Johann v. Krusenstern, der Physiker Heinrich Friedrich Emil Lenz, der Unterrichtsminister Fürst Karl Andreevič Lieven, die Mathematiker Gabriel Lamé und Benoît Pierre Emile Clapeyron. Die Sammlung für die Humboldt-Briefausgabe der Humboldt-Gesellschaft hat inzwischen erwiesen, dass Humboldt in Moskau auch die Dichterin und bedeutende Übersetzerin (Puschkin, Wjasenski, Baratynski, Jasykov, aber auch Schiller) Karolina Karlovna Pavlova geb. Jenisch aufgesucht hat und später mit ihr mehrfach korrespondierte, wobei er eine bisher nicht bekannte Kenntnis der russischen Literatur offenbarte (z.B. »Sie kennen meine Bewunderung für Alexander Puschkin, für das Freie, Tiefe, Großartige seines Stils.«) Es erweist sich erneut, dass Humboldt auch ein Genie des Kontakts und ein Meister in der Einteilung seiner Zeit war.

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