Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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zuwinkten, da sie mich für irgend einen Neffen des Hauses hielten. In solchen Augenblicken streiften Gilbertes Zöpfe meine Backe. Sie schienen mir in ihrer grashaften Zartheit natürlich und übernatürlich zugleich und das gewaltige Kunstwerk ihres Geflechtes eine besondere Schöpfung, für die man den Rasen des Paradieses verwendet hatte. Für den winzigsten Abschnitt dieser Zöpfe hätte ich ein himmlisches Herbarium als Reliquienschrein gewollt. Hätte ich doch, da ich nicht hoffte, ein wirkliches Stück dieser Zöpfe je zu erhalten, wenigstens ihre Photographie besessen! Sie wäre mir viel köstlicher gewesen als die der Blumenstücke, die Lionardo da Vinci gezeichnet hat. Um eine zu bekommen, ließ ich mich bei Freunden der Swann und sogar bei Photographen auf niedrige Machenschaften ein, die mir nicht zu dem verhalfen, was ich wollte, mich aber für immer mit sehr lästigen Leuten verbanden.

      Gilbertes Eltern, die mich so lange verhindert hatten, sie zu sehen –, wenn ich jetzt in das dunkle Vorzimmer trat, wo beständig, beängstigender und ersehnter als einst in Versailles das Erscheinen des Königs, die Möglichkeit, ihnen zu begegnen, in der Luft lag, und wo ich an einen riesigen Kleiderständer – siebenarmig wie der Leuchter der heiligen Schrift – anzurennen pflegte, und mich in Verbeugungen vor einem Lakaien erging, der dort in langem, grauem Rock auf der Holztruhe saß (in der Dunkelheit hielt ich ihn für Frau Swann) –, wenn jetzt Gilbertes Vater oder Mutter gerade im Augenblick meiner Ankunft vorbeikam, sahen sie mich durchaus nicht verdrossen an, sondern drückten mir lächelnd die Hand und sagten:

      »Wie geht es Ihnen? Comment allez-vous?« (was sie beide commen allez-vous aussprachen, ohne das t hinüberzuziehen, und man kann sich denken, daß ich mich dann zu Hause unablässig und mit Wollust darin übte, dies t ebenfalls zu unterdrücken.) »Weiß Gilberte, daß Sie da sind? Nun, dann auf Wiedersehen.«

      Mehr noch: die Teegesellschaften, zu denen Gilberte ihre Freundinnen einlud und die bisher zwischen ihr und mir scheinbar die unüberwindlichsten Schranken aufgebaut hatten, wurden jetzt zu einer Gelegenheit, uns zu vereinigen, von der sie mich durch ein Billett unterrichtete, weil ich noch ziemlich neu als Bekanntschaft war. Das war jedesmal auf eine andere Art Briefpapier geschrieben. Einmal war es mit einem blauen Pudel geziert, der sich im Profil über einer humoristischen englischen Unterschrift mit einem Ausrufungszeichen erhob, ein anderes Mal war es mit einem Anker gestempelt oder mit den Chiffern G. S., die in übermäßiger Länge die ganze Höhe des Blattes einnahmen, oder der Name »Gilberte« stand schräg in einer Ecke in Goldbuchstaben, die die Unterschrift meiner Freundin nachbildeten und unter einem offenen, schwarz gedruckten Regenschirm in einen Schnörkel endeten, oder er war in ein Monogramm in Form eines chinesischen Hutes eingeschlossen, alle Buchstaben großgeschrieben, man konnte keinen einzigen erkennen. Schließlich, da der Posten Briefpapier, den Gilberte besaß, so erheblich er war, nicht unerschöpflich blieb, bekam ich nach einer Reihe Wochen wieder das zu sehen, auf dem sie mir das erstemal geschrieben, mit der Devise Per viam rectam über dem behelmten Ritterin einer Medaille von braungebeiztem Silber. Und jedes Papier kam eher an diesem als an jenem Tage dran, kraft bestimmter Riten, so meinte ich damals, jetzt glaube ich eher, daß Gilberte sich zu erinnern versuchte, was für Papier sie die früheren Male benutzt hatte, um ihren Korrespondenten, wenigstens denen, für die sie sich Mühe gab, nur in möglichst großen Abständen dasselbe Papier zu schicken. Da ihre Unterrichtsstunden zeitlich verschieden lagen, mußten die Freundinnen, die Gilberte einlud, zum Teil gehen, wenn andere kamen, und so hörte ich schon auf der Treppe ein Stimmengewirr aus dem Vorzimmer, das bei meiner Erregung über die imposante Feierlichkeit, der ich beiwohnen sollte, jählings, schon ehe ich den Vorplatz betrat, alle Bande zerriß, die an ein früheres Leben mich knüpften; ich vergaß sogar, daß ich mein Halstuch, sobald ich ins Warme kam, abnehmen und nach der Uhr sehen sollte, um nicht zu spät nach Hause zu kommen. Die Treppe war übrigens aus Holz, wie man sie damals in gewissen Mietshäusern im Stil Henri II baute (der war lange Odettes Ideal gewesen, aber bald sollte sie ihn sattbekommen), und an der Wand stand die Vorschrift: ›Es ist untersagt, sich zum Abstieg des Fahrstuhls zu bedienen.‹ Etwas Derartiges gab es bei uns nicht. Mir schien diese Treppe etwas so Köstliches, daß ich zu meinen Eltern sagte, es sei eine antike Treppe, die Herr Swann von weither mitgebracht habe. Meine Wahrheitsliebe war so groß, daß ich ihnen diese Mitteilung auch dann ohne Bedenken gemacht haben würde, wenn ich gewußt hätte, sie war falsch; denn nur auf diese Weise konnte ich ihnen ermöglichen, vor der Würde von Swanns Treppe denselben Respekt zu haben wie ich. So möchte man vor einem Unwissenden, der nicht begreifen kann, worin das Genie eines großen Arztes besteht, lieber nicht zugeben, daß er keinen Schnupfen heilen kann. Da ich aber keine Beobachtungsgabe besaß, im allgemeinen weder Namen noch Art der Dinge kannte, die mir vor Augen waren, und nur begriff, wenn sie sich in der Nähe der Swann befanden, mußte es etwas Besonderes um sie sein, so war ich nicht einmal sicher, ob ich mit meinen Angaben über den künstlerischen Wert dieser Treppe, die Gott weiß woher stammte, meine Eltern belog. Sicher war ich dessen nicht, aber es mußte mir doch wohl wahrscheinlich vorkommen, denn ich fühlte, daß ich sehr rot wurde, als mein Vater mich unterbrach: »Ich kenne diese Häuser, eins habe ich angesehen, sie sind alle gleich; Swann bewohnt einfach mehrere Stockwerke; Berlier hat sie gebaut.« Er fügte hinzu, er habe in einem solchen Hause eine Wohnung mieten wollen, aber davon Abstand genommen, weil er sie nicht bequem und den Eingang zu dunkel fand; das sagte er, ich aber fühlte instinktiv, Swanns Ehre und mein Glück forderten von mir das Opfer des Verstandes: wie ein Frommer das Leben Jesu von Renan, verwarf ich auf Grund einer Entscheidung höherer Autorität auf immer den ketzerischen Gedanken, die Wohnung der Swann sei irgend eine Wohnung, wie auch wir sie hätten beziehen können.

      An diesen Einladungstagen kam ich also Stufe um Stufe die Treppe hinauf, konnte bald nichts mehr denken und nichts mehr erinnern, war nur noch ein Spielzeug der billigsten Reflexe und gelangte schließlich in die Zone, wo es nach dem Parfüm von Frau Swann roch. Schon glaubte ich den majestätischen Schokoladenkuchen zu sehen, den rings im Kreis Petits fours auf Tellern umgaben und kleine Damastservietten, wie die Etikette sie vorschrieb (ihr graues Muster war eine Spezialität der Swann). Aber das Erscheinen dieser unwandelbaren, geregelten Zusammenstellung schien, wie der Kausalablauf Kants, von einem höchsten Akt der Freiheit abzuhängen. Denn, wenn wir alle in Gilbertes kleinem Salon versammelt waren, sah sie mit einmal auf die Uhr und sagte:

      »Wißt ihr, mein Frühstück ist nachgerade etwas lange her, ich diniere erst um acht, ich hätte große Lust, etwas zu essen. Was meint ihr dazu?«

      Und sie ließ uns in das Eßzimmer eintreten, in dem es finster war wie im Innern eines von Rembrandt gemalten asiatischen Tempels. Ein architektonischer Kuchen (anheimelnd und gediegen, aber doch imposant sah er aus) thronte dort scheinbar sowieso, als wäre ein ganz gewöhnlicher Tag, für den Fall, daß Gilberte die Laune ankäme, ihn seiner schokoladenen Zinnen zu entkrönen und seine Wälle mit den falben, steilen Abhängen, die im glühenden Ofen gebrannt waren wie die Bastionen vom Palast des Darius, niederzulegen. Wenn sie an die Zerstörung des ninivitischen Backwerks ging, zog Gilberte nicht nur ihren eigenen Hunger zu Rate; sie erkundigte sich auch nach meinem und brach für mich aus dem einstürzenden Monument ein Mauerstück heraus, im orientalischen Geschmack glasiert und ausgelegt mit scharlachroten Früchten. Sie fragte mich sogar, zu welcher Stunde meine Eltern speisten, als ob ich das noch wüßte, als ob der Trubel, der mich beherrschte, das Gefühl von Appetitlosigkeit oder Hunger, den Begriff des Diners oder das Bild der Familie in meinem leeren Gedächtnis, dem paralysierten Magen hätte fortbestehen lassen. Zum Unglück war diese Paralyse nicht von Dauer. Aß ich jetzt von den Kuchen, ohne es gewahr zu werden, der Augenblick mußte kommen, wo sie verdaut sein wollten. Aber noch war er weit. Inzwischen machte Gilberte mir ›meinen Tee‹. Ich trank unendlich viel davon, während doch sonst eine einzige Tasse mir auf vierundzwanzig Stunden den Schlaf raubte. Meine Mutter sagte schon ganz gewohnheitsmäßig: »Zu ärgerlich, so oft das Kind zu den Swann geht, kommt es krank zurück.« Aber wußte ich denn, wenn ich bei den Swann war, daß es Tee war, was ich trank? Und hätte ich es auch gewußt, ich hätte doch getrunken, denn angenommen selbst, mir wäre einen Augenblick der Sinn für das Gegenwärtige wieder zugefallen, Erinnerung an Vergangenheit, Voraussicht auf die Zukunft hätte mir das nicht gegeben. Meine Phantasie war nicht imstande, bis in die entfernten Zeiten zu dringen, in denen mir der Gedanke, mich niederzulegen und das Bedürfnis nach Schlaf kommen könnten.

      Gilbertes Freundinnen waren nicht alle in solch willenloses Trunkensein versunken.