Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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Ich glaube, er hat von vierzehn gesprochen. Nein, doch zwölf, kurzum, ich weiß nicht mehr. Beim Nachhausekommen habe ich nicht daran gedacht, daß ihr Jour ist, als ich nun all die Wagen vor der Tür sah, glaubte ich, es sei eine Hochzeit im Hause. Während der paar Minuten, die ich in meiner Bibliothek bin, hat es nicht aufgehört zu klingeln, mein Ehrenwort, ich habe schon Kopfschmerzen. Und es sind immer noch viele Leute bei ihr?«

      »Nein, nur zwei.«

      »Weißt du, wer?«

      »Frau Cottard und Frau Bontemps.«

      »Ah, die Frau des Kabinettchefs im Ministerium der öffentlichen Arbeiten.«

      »Ich weiß, daß ihr Mann in einem Ministerium angestellt ist, aber als was, das weiß ich nicht genau«, sagte Gilberte in falsch kindlichem Ton.

      »Närrchen, du sprichst ja wie ein zweijähriges Kind. In einem Ministerium angestellt, sagst du? Er ist ganz einfach Kabinettchef, Chef von der ganzen Bude, ja sogar – wo habe ich meinen Kopf? Ich bin wahrhaftig gerade so zerstreut wie du – er ist nicht Kabinettchef, er ist Kabinettsdirektor.«

      »Weiß ich doch nicht! Das ist wohl sehr viel, Kabinettsdirektor sein?« antwortete Gilberte, die keine Gelegenheit versäumte, alles, worauf ihre Eltern eitel waren, mit Gleichgültigkeit zu behandeln. (Sie konnte sich übrigens auch denken, sie mache eine glänzende Beziehung nur noch glänzender, wenn sie scheinbar keinen besondern Wert darauf legte.)

      »Wie? Ob das viel ist?« rief Swann; er zog der Bescheidenheit, die mich im Zweifel lassen konnte, eine bestimmtere Sprache vor. »Schlechthin der erste nach dem Minister! Er ist sogar mehr als Minister, denn er macht alles. Er scheint, nebenbei gesagt, eine Kapazität zu sein, eine Kraft ersten Ranges und eine durchaus distinguierte Persönlichkeit. Offizier der Ehrenlegion! Ein reizender Mensch und obendrein noch ein hübscher Bursche.«

      Seine Frau hatte ihn übrigens aller Welt zum Trotz geheiratet, weil er so reizend war. Er hatte – und das genügt, um ein seltenes, köstliches Gesamtbild zu geben – einen blonden, seidigen Bart, hübsche Züge, sprach durch die Nase, roch aus dem Mund und trug ein Glasauge.

      »Wissen Sie,« wandte sich Swann wieder an mich, »mir macht es viel Spaß, diese Leute in unserer heutigen Regierung zu sehen, es sind die Bontemps vom Hause Bontemps-Chenut, Typ der reaktionären, klerikalen Bourgeoisie mit beschränkten Ideen. Ihr seliger Großvater hat, wenigstens von Ruf und vom Sehen, den guten alten Chenut wohl gekannt, der Kutschern nie über einen Sou Trinkgeld gab, obwohl er für seine Zeit reich war, den Baron Bréau-Chenut auch. Das ganze Vermögen ist beim Krach der Union Générale draufgegangen. Sie sind noch zu jung, um davon gehört zu haben; na, inzwischen hat man sich wieder herausgemacht, so gut es ging.«

      »Es ist der Onkel einer Kleinen, die in meinen Kursus ging, aber in eine Klasse weit unter meiner, der berühmten ›Albertine‹. Sie wird sicher einmal sehr ›fast‹, vorläufig hat sie eine komische Art, sich zu benehmen.«

      »Meine Tochter ist erstaunlich, sie kennt alle Welt.«

      »Ich kenne sie nicht. Ich habe sie nur vorüberkommen sehen, da hieß es Albertine hier, Albertine da. Aber Frau Bontemps kenne ich, sie gefällt mir auch nicht.«

       »Sehr unrecht von dir, sie ist reizend, hübsch, klug, sogar geistreich. Ich will ihr guten Tag sagen und sie fragen, ob ihr Mann glaubt, daß wir Krieg bekommen werden, und ob man auf den König Theodosius rechnen kann. Er muß es wissen, nicht wahr? Er ist in die Geheimnisse der Götter doch eingeweiht.«

      So sprach Swann früher nicht. Aber man hat ja oft gesehen, wie Prinzessinnen von Geblüt, die sich erst sehr einfach gaben, wenn sie sich zehn Jahre später von einem Kammerdiener entführen ließen und nun wieder in guter Gesellschaft verkehren möchten und merken, daß man nicht gern zu ihnen kommt, die Sprache schnöder Schwätzerinnen wie von selbst annehmen und bei Erwähnung einer beliebten Herzogin sagen: »Sie war gestern bei mir« sowie »Ich lebe sehr zurückgezogen.« Es ist überflüssig, die Sitten zu studieren, man kann sie aus psychologischen Gesetzen ableiten.

      Die Swann teilten die Verschrobenheit der Leute, zu denen man wenig kommt; der Besuch, die Einladung, ein einfaches, liebenswürdiges Wort von einigermaßen hervorragenden Persönlichkeiten waren für sie Ereignisse, denen sie eine gewisse Öffentlichkeit zu geben wünschten. Wollte es das Unglück, daß die Verdurin in London waren, wenn Odette ein etwas glänzenderes Diner gab, so traf man Anstalten, ihnen diese Nachricht durch einen gemeinsamen Freund über den Kanal kabeln zu lassen. Nicht einmal schmeichelhafte Briefe und Telegramme, die Odette bekam, konnten die Swann für sich behalten. Man sprach darüber zu den Freunden, man ließ sie von Hand zu Hand gehen. Und so glich der Salon der Swann den Kurhotels, wo die Depeschen angeschlagen werden.

      Wer übrigens den früheren Swann nicht nur außerhalb der Gesellschaft wie ich, sondern in Gesellschaft gekannt hatte, im Kreise der Guermantes, wo man, außer bei Hoheiten und Herzoginnen, äußerst anspruchsvoll in bezug auf Geist und Charme war und hervorragende Leute ausschloß, weil man sie langweilig oder gewöhnlich fand, – der konnte nur verwundert feststellen, daß Swann gar nicht mehr diskret war, wenn er von seinen Beziehungen sprach, ja nicht einmal in ihrer Auswahl diffizil. Wie kam es, daß ein so gemeines, bösartiges Geschöpf wie Frau Bontemps ihm nicht auf die Nerven ging? Wie konnte er sie für sympathisch erklären? Die Erinnerung an den Kreis der Guermantes hätte das, wie es schien, verhindern müssen, in Wirklichkeit unterstützte sie diese Tendenz. Sicher herrschte bei den Guermantes, im Gegensatz zu den meisten höheren Kreisen, Geschmack, sogar verfeinerter Geschmack, aber auch Snobismus, und von daher die Möglichkeit zeitweiser Unterbrechung in der Anwendung des Geschmacks. Wenn es sich um jemanden handelte, der in der Koterie nicht unentbehrlich war, um einen etwas feierlichen republikanischen Minister des Äußern oder einen geschwätzigen Akademiker, dann kam Geschmack ihm gegenüber gründlichst zur Geltung, dann beklagte Swann Frau von Guermantes, daß sie neben einem solchen Tischgenossen auf irgend einer Botschaft speisen mußte, und man zog ihm tausendmal einen eleganten Menschen vor, das heißt, einen Menschen des Kreises Guermantes, der zu nichts taugte, aber die Mentalität der Guermantes besaß und von ihrer Clique war. Allein wenn eine Großherzogin, eine Prinzessin von Geblüt öfters bei Frau von Guermantes speiste, so gehörte schließlich auch sie zu dieser Clique, ohne irgend ein Recht darauf zu haben, ohne im entferntesten die Mentalität des Kreises zu besitzen. Mit der Naivität von Hochgeborenen bemühte man sich, sobald man sie empfing, sie auch angenehm zu finden, da man sich nicht sagen konnte, man empfinge sie, weil man sie angenehm finde. Swann kam dann Frau von Guermantes zu Hilfe und sagte, wenn die Hoheit gegangen war: »Im Grunde ist sie eine gute Frau, sie hat sogar einen gewissen Sinn für Komik. Mein Gott, ich glaube nicht, daß sie die Kritik der reinen Vernunft von Grund aus studiert hat, aber sie ist nicht unsympathisch.«

      »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, antwortete die Herzogin. »Und obendrein war sie noch eingeschüchtert, aber Sie werden sehen, sie kann reizend sein.«

      »Sie ist bei weitem nicht so enervierend wie Frau X (die Gattin des geschwätzigen Akademikers, eine hervorragende Frau), die einem aus zwanzig Büchern zitiert.«

      »Man kann die beiden gar nicht nebeneinander nennen.«

      Die Fähigkeit, so etwas, noch dazu aufrichtig, zu sagen, hatte Swann bei der Herzogin erworben und beibehalten. Jetzt wandte er sie auf die Leute an, die er empfing. Er bemühte sich, an ihnen die Eigenschaften wahrzunehmen und zu lieben, die jedes menschliche Wesen offenbart, wenn man es mit günstigem Vorurteil und nicht mit dem Widerwillen der Reizbaren prüft; er brachte die Vorzüge der Frau Bontemps zur Geltung wie ehedem die der Prinzessin von Parma, die aus dem Kreis Guermantes hätte ausgeschlossen werden müssen, wenn dort nicht gewisse Hoheiten von vornherein freien Zutritt gehabt hätten, und man bei ihnen auf Geist und einen gewissen Charme ernsthaft Wert gelegt hätte. Wie man bereits früher gesehen hat, lag es Swann nahe (und davon machte er jetzt wieder eine, nur dauerhaftere, Anwendung), seine gesellschaftliche Stellung gegen eine andre zu vertauschen, die ihm unter gewissen Umständen besser zusagte. Nur wer unfähig ist, bei der Wahrnehmung aufzulösen, was auf den ersten Blick unteilbar scheint, glaubt an die Zusammengehörigkeit des Menschen mit seiner Situation. In den aufeinanderfolgenden Momenten seines Lebens bewegt sich jemand in verschiedenen Graden der gesellschaftlichen