zu träumen; da blieb ich allein in Gesellschaft von Orchideen, Rosen und Veilchen. Die beobachteten, wie Personen, die neben einem warten, ohne einen zu kennen, Schweigen, das durch ihre Eigenschaft, lebendige Dinge zu sein, noch eindringlicher wurde. Fröstelnd empfingen sie die Wärme eines rotglühenden Kohlenfeuers, das, wie Kostbarkeiten hinter einer Kristallvitrine, in einem weißen Marmorbecken untergebracht war und von Zeit zu Zeit seine gefährlichen Rubine einstürzen ließ.
Ich hatte mich gesetzt, erhob mich aber schleunigst, als ich die Tür aufgehen hörte; es war nur ein zweiter Lakai, dann ein dritter, und das geringfügige Resultat, auf das ihr unnötig erregendes Kommen und Gehen hinzielte, war, ein wenig Kohlen aufs Feuer oder Wasser in die Vasen zu tun. Sie gingen, und ich befand mich wieder allein, sobald die Tür geschlossen war, die schließlich doch wohl Frau Swann öffnen würde. Und zuverlässig wäre ich in einer Zaubergrotte minder verwirrt gewesen als in diesem kleinen Salon, in dem das Feuer seltsame Verwandlungen mir vorzunehmen schien wie in Klingsors Laboratorium. Da klangen von neuem Schritte, und ich erhob mich nicht, es würde gewiß wieder nur ein Lakai sein. Swann war es. »Wie? Ganz allein? Ach, sehen Sie, meine arme Frau hat es nie fertig gebracht zu wissen, wie spät es ist. Zehn vor Eins! Jeden Tag wird es später. Und geben Sie acht: sie wird ankommen, ohne sich zu beeilen, und glauben, sie sei noch zu früh.« Und da er an gichtischer Neuralgie litt, was ihn ein klein wenig lächerlich machte, so wirkte der Umstand, daß er eine unpünktliche Frau hatte, die so spät aus dem Bois heimkam, bei ihrer Schneiderin die Zeit versäumte und nie rechtzeitig zum Frühstück erschien, beunruhigend auf seine Magennerven, schmeichelte dahingegen seiner Eitelkeit.
Er zeigte und erklärte mir seine Neuerwerbungen, aber die Erregung, verbunden mit dem ungewohnten Fasten um diese Zeit, schuf in meinem angegriffenen Innern eine Leere, so daß ich zwar fähig war zu sprechen, aber nicht zuzuhören. Übrigens genügte mir bei den Kunstwerken, die Swann besaß, die Tatsache, daß sie bei ihm untergebracht waren und einen Teil der köstlichen Stunde ausmachten, die dem Frühstück voranging. Die Gioconda hätte sich da befinden können, ohne mir mehr Vergnügen zu bereiten als ein Schlafrock von Frau Swann oder ihre Riechfläschchen.
So wartete ich weiter, allein oder mit Swann, und oft kam auch Gilberte, uns Gesellschaft zu leisten. Die Ankunft von Frau Swann erschien mir vorbereitet durch soviel majestätische Auftritte, unermeßlich bedeutsam. Ich lauschte auf jedes Geräusch. Aber so hoch, wie man sie erhofft, findet man keine Kathedrale, keine Welle im Sturm, keinen Sprung eines Tänzers; nach dem Auftritt livrierter Lakaien (sie waren wie Figuranten, deren Zug im Theater die endliche Erscheinung der Königin vorbereitet und gerade dadurch beeinträchtigt) hielt Frau Swann, wenn sie verstohlen in ihrem Sealmäntelchen, den Schleier über die von Kälte gerötete Nase gezogen, ankam, nicht, was sie meiner Phantasie während des Wartens versprochen hatte.
War sie aber den ganzen Morgen zu Hause geblieben und kam sie dann in einem Peignoir aus hellfarbigem Crêpe de Chine in den Salon, so schien mir ihr Gewand eleganter als alle Roben.
Bisweilen entschieden sich die Swann dafür, den Nachmittag zu Hause zu bleiben. Dann sah ich nach dem späten Frühstück sehr rasch hinter der Gartenmauer die Sonne dieses Tages, der mir doch anders als die andern hätte sein sollen, sinken; und wenn nun auch die Bedienten Lampen von allen Größen und Formen hereinbrachten, die jede auf dem Weihaltar einer Konsole, eines Guéridons, eines Eckschränkchens oder eines kleinen Tisches brannten, als sei ein unbekannter Kultus zu begehen, – aus der Unterhaltung erstand nichts Außerordentliches, und ich ging nach Hause, enttäuscht, wie man es schon als Kind oft nach der Mitternachtsmesse ist.
Aber diese Enttäuschung war rein geistiger Natur. Ich konnte überglücklich sein in diesem Hause, wo Gilberte, wenn sie noch nicht bei uns war, gleich kommen und mir für Stunden ihr Wort und ihren aufmerksamen und lächelnden Blick schenken würde so, wie ich ihn zum erstenmal in Combray gesehen hatte. Höchstens war ich ein bißchen eifersüchtig, wenn ich sie des öftern in die großen Zimmer verschwinden sah, wohin eine Innentreppe führte. Gezwungen, im Salon zu bleiben (wie der Liebhaber der Schauspielerin nur seinen Parkettsitz hat und unruhig von dem träumt, was sich in den Kulissen, im Foyer der Schauspieler abspielt), stellte ich über diese andern Teile des Hauses an Swann weislich verschleierte Fragen, aus deren Tonfall aber ich eine gewisse Beklommenheit nicht verbannen konnte. Er erklärte mir, das Zimmer, in das Gilberte sich begab, sei die Wäschekammer, erbot sich, sie mir zu zeigen, und versprach mir, er werde Gilberte jedesmal, wenn sie dahin müsse, auffordern, mich mitzunehmen. Durch diese Worte und die Entspannung, die sie mir verschafften, unterdrückte Swann mit einem Schlage in meinem Innern die qualvollen Distanzgefühle, die uns eine geliebte Frau so fern erscheinen lassen. In solchen Augenblicken empfand ich für ihn eine zärtliche Zuneigung, die mir tiefer vorkam als meine Zuneigung zu Gilberte. Er, der Gebieter seiner Tochter, gab sie mir, sie aber versagte sich bisweilen, ich hatte über sie direkt nicht eben jene Macht wie indirekt durch Swann. Sie selber liebte ich doch und konnte sie daher nicht ohne Verwirrung ansehen, nicht ohne das Verlangen nach mehr, welches in Gegenwart des geliebten Wesens das Gefühl aufhebt, daß wir lieben.
Meist aber blieben wir nicht im Hause, sondern fuhren spazieren. Bisweilen setzte sich Frau Swann, bevor sie ging sich anzukleiden, ans Klavier. Ihre schönen Hände glitten aus den rosa oder weiß gefärbten, oft auch sehr bunten Ärmeln ihres Morgenrocks aus Crêpe de Chine und ließen die Fingerglieder mit derselben Melancholie auf die Tasten nieder, die auch in ihren Augen, nicht aber in ihrem Herzen war. An einem solchen Tage geschah es, daß sie mir den Teil der Sonate von Vinteuil vorspielte, in dem sich die kleine Passage befindet, die Swann so sehr geliebt hatte. Aber oft versteht man nichts, wenn man etwas komplizierte Musik zum erstenmal hört. Und doch war mir, als man mir später ein paarmal diese Sonate vorspielte, als ob ich sie genau kenne. Man sagt darum nicht mit Unrecht ›zum ersten Male hören‹. Hätte man, wie man meint, beim ersten Male gar nichts verstanden, so würden das zweite und dritte Mal nicht anders sein als das erste, und es gäbe keinen Grund, beim zehnten Male mehr zu verstehen. Was beim ersten Male fehlen dürfte, ist weniger das Verstehen als das Gedächtnis. Unser Gedächtnis ist, im Verhältnis zu dem Komplex von Eindrücken, dem es, während wir zuhören, standzuhalten hat, minimal, so kurz wie das eines Menschen, der tausend Dinge im Schlaf denkt, die er alsbald vergißt, oder das eines halb kindisch Gewordenen, der eine Minute später sich nicht mehr an Worte erinnert, die man ihm eben gesagt hat. Für so vielfältige Eindrücke vermag uns das Gedächtnis Erinnerung nicht unmittelbar zu liefern. Aber nach und nach formt sich diese in ihm; bei Kunstwerken, die wir zwei- oder dreimal gehört haben, gleichen wir dem Schüler, der vor dem Einschlafen eine Lektion, die er nicht zu können meinte, mehrere Male durchgelesen hat und sie am nachten Morgen dann auswendig hersagt. Bis zu jenem Tage hatte ich noch nichts von der Sonate gehört, und da, wo Swann und seine Frau mit Deutlichkeit eine Passage unterschieden, blieb diese meiner bewußten Wahrnehmung so fern wie ein Name, auf den man sich zu besinnen sucht, an dessen Stelle man aber nur ein Nichts findet, ein Nichts, aus dem eine Stunde später unverhofft die Silben von selbst mit einem Schlage hervorbrechen werden, um die man sich erst vergeblich bemüht hat. Wahrhaft erlesene Werke behält man nicht nur nicht gleich, sondern nimmt innerhalb dieser Werke – und so geschah es auch mir mit der Sonate von Vinteuil – zuerst nur die unbedeutendsten Teile wahr. Es war ein Irrtum von mir zu meinen, dies Werk behalte mir nichts mehr vor, weswegen ich mich lange Zeit nicht darum bemühte, es wieder zu hören, nachdem Frau Swann mir die berühmteste Stelle vorgespielt habe; darin war ich töricht wie die, welche sich keine Überraschung von San Marco in Venedig erhoffen, weil sie die Form der Kirchenkuppeln schon aus der Photographie kennen. – Aber mehr noch: auch als ich die Sonate ganz bis zu Ende gehört hatte, blieb sie mir fast unsichtbar wie ein Bauwerk, von dem Entfernung oder Nebel nur schwache Umrisse lassen. Daher die Melancholie, die mit der Kenntnis solcher Werke sich verknüpft wie mit allem, was in der Zeit sich verwirklicht. Als mir in der Sonate von Vinteuil das Heimlichste sich enthüllte, hatte Gewohnheit meine Aufnahmefähigkeit schon geschwächt und, was ich zu allererst verstanden und besonders geliebt hatte, entging mir nun, ließ mich kalt. Und da ich alles, was die Sonate mir gab, nur in verschiedenen, einander folgenden Zeiträumen habe lieben können, besaß ich sie nie ganz und gar; es ging mir mit ihr wie mit dem Leben. Aber in einem Punkte ist große Kunst nicht so enttäuschend wie das Leben, sie gibt uns nicht gleich anfangs ihr Bestes. In der Sonate von Vinteuil wird man der Schönheiten, die man am ehesten entdeckt, auch am schnellsten