eingesehen und beschlossen habe, ihr eine Einladung zu schicken, um von der Tribüne aus dem Besuche beizuwohnen, den der Zar Nikolaus übermorgen im Dôme des Invalides machen sollte. Aber die Prinzessin, die trotz allem Anschein, trotz der Art ihrer Umgebung, die sich vorwiegend aus Künstlern und Schriftstellern zusammensetzte, im Grunde, jedesmal wenn sie zu handeln hatte, die Nichte Napoleons blieb, erwiderte: »Jawohl, diese Einladung habe ich heute morgen bekommen und sie dem Minister zurückgeschickt, der sie vermutlich jetzt schon hat. Ich habe ihm gesagt, ich brauche keine Einladung, um in den Dôme des Invalides zu gehen. Wenn die Regierung wünscht, daß ich hinkomme, dann gehe ich nicht auf eine Tribüne, sondern in unsere Gruft, wo das Grab des Kaisers ist. Dazu brauche ich keine Karten. Ich habe meine Schlüssel. Ich kann hinein, wann ich will. Die Regierung hat mich nur wissen zu lassen, ob sie wünscht, daß ich komme oder nicht. Aber wenn ich hingehe, dann da unten hin oder gar nicht.« In diesem Augenblick wurden Frau Swann und ich von einem jungen Mann gegrüßt, der ihr guten Tag sagte, ohne stehenzubleiben. Es war Bloch. Ich wußte nicht, daß sie ihn kannte. Auf meine Frage sagte Frau Swann, er sei ihr von Frau Bontemps vorgestellt worden, er sei Attaché im Kabinett des Ministers, was ich nicht wußte. Oft mochte sie ihn übrigens nicht gesehen haben – oder sie wollte ihn nicht bei seinem Namen nennen, den sie vielleicht nicht gerade »chick« fand – sie sagte nämlich, er heiße Herr Moreul. Ich versicherte ihr, sie müsse ihn mit jemandem verwechselten, er heiße Bloch. Die Prinzessin richtete eine Schleppe, die sich hinter ihr ausbreitete und die Frau Swann bewundernd betrachtete. »Das ist ein Pelz, den mir der Kaiser von Rußland geschickt hat,« sagte die Prinzessin, »und da ich ihn eben besuchte, habe ich das angelegt, um ihm zu zeigen, daß es sich als Mantel arrangieren ließ.« »Prinz Louis soll in die russische Armee eingetreten sein, die Prinzessin wird trostlos sein, ihn nicht mehr bei sich zu haben«, sagte Frau Swann, ohne die Zeichen von Ungeduld bei ihrem Gatten zu bemerken. »Das hat er gerade nötig gehabt! Ich habe ihm auch gesagt: ›Daß du einen Militär in der Familie hast, ist doch kein Grund dafür‹«,antwortete die Prinzessin, sie spielte schlicht und barsch auf Napoleon I an. Swann hielt es nicht mehr aus. »Madame, jetzt werde ich die Hoheit machen und um die Erlaubnis bitten, mich zu verabschieden, aber meine Frau ist sehr leidend gewesen, ich will nicht, daß sie länger still stehen bleibt.« Frau Swann machte von neuem einen Knix, und die Prinzessin hatte für uns alle ein göttliches Lächeln, das sie wohl aus der Vergangenheit mitbrachte, von den Grazien ihrer Jugend, den Abenden von Compiègne, es glitt unberührt und süß über das eben noch mürrische Gesicht; dann entfernte sie sich, gefolgt von den beiden Hofdamen, die in der Art von Dolmetschern, von Kindermädchen oder Krankenschwestern unsere Unterhaltung nur mit unwesentlichen Redensarten und unnötigen Erklärungen durchsetzt hatten. »Sie müssen noch in dieser Woche Ihren Namen bei ihr einschreiben,« sagte Frau Swann zu mir, »Karten gibt man nicht ab bei all diesen royautés, wie die Engländer sagen, aber sie wird Sie einladen, wenn Sie sich einschreiben lassen.«
In diesen letzten Wintertagen traten wir bisweilen vor der Spazierfahrt in eine der kleinen Ausstellungen ein, die gerade eröffnet wurden. Dort begrüßten Swann als Sammler von Ruf mit besonderer Ehrerbietung die Bilderhändler, bei denen die Ausstellungen stattfanden. Und in dieser Jahreszeit, da es noch kalt war, erwachte meine alte Sehnsucht, in den Süden und nach Venedig zu reisen, wenn ich in den Sälen einen schon volleren Frühling und eine glühende Sonne Veilchenschatten auf rosa Alpenabhänge legen und dem Canale grande die dunkle Durchsichtigkeit des Smaragd geben sah. War schlechtes Wetter, gingen wir in ein Konzert oder Theater und dann zu einem ›Tee‹. Hatte Frau Swann mir etwas zu sagen, das die Personen an den Nachbartischen oder selbst die bedienenden Kellner nicht verstehen sollten, so sagte sie es auf englisch, als wäre das eine Sprache, die nur wir beide kennten. Dabei konnte alle Welt Englisch, nur ich hatte es noch nicht gelernt und war nun gezwungen, ihr dies einzugestehen, damit sie nicht mehr über die Personen, die den Tee tranken, und die, welche ihn brachten, Bemerkungen mache, die, wie ich vermutete, unfreundlich waren und von denen ich selber kein Wort verstand, während das betroffene Individuum keins verlor.
Einmal bereitete mir Gilberte gelegentlich einer Theatermatinee eine tiefgehende Überraschung. Und zwar war es gerade an dem Tage, von dem sie mir zuvor gesprochen hatte, dem Todestage ihres Großvaters. Wir beide sollten zusammen mit ihrer Hauslehrerin Stücke aus einer Oper hören, und Gilberte hatte sich schon zum Ausgehen angezogen; sie bewahrte die gleichgültige Miene, die sie gewöhnlich allem gegenüber zeigte, was wir unternahmen; ihr wäre alles gleich, pflegte sie anzugeben, wenn es mir nur Vergnügen mache und ihren Eltern angenehm sei. Vor dem Frühstück nahm ihre Mutter uns beiseite und sagte ihr, es verdrieße ihren Vater, uns an dem Tage ins Konzert gehen zu sehen. Das fand ich natürlich. Gilberte verhielt sich ganz still, konnte aber einen Zorn, der sie erblassen machte, nicht verbergen, sie sprach kein Wort mehr. Als Herr Swann kam, zog seine Frau ihn in die andere Ecke des Salons und sagte ihm etwas ins Ohr. Er rief Gilberte und ging mit ihr ins Nebenzimmer. Man hörte laut reden. Ich konnte mir aber nicht denken, daß Gilberte, dies gehorsame, zärtliche, verständige Kind, an einem solchen Tage und bei einem so geringfügigen Anlaß dem Wunsche ihres Vaters widerstreben werde. Schließlich kam Swann aus dem Zimmer und sagte zu ihr:
»Du weißt, was ich dir gesagt habe. Jetzt tu, was du willst.«
Gilberte blieb während des ganzen Frühstücks starr und gezwungen; nachher gingen wir auf ihr Zimmer. Da rief sie mit einmal unbedenklich und, als ob sie auch vorher keinen Augenblick Bedenken getragen habe: »Zwei Uhr! Sie wissen doch, das Konzert fängt um halb drei an.« Und sie sagte zu ihrer Hauslehrerin, sie solle sich eilen.
»Aber verdrießt das nicht Ihren Vater?« fragte ich.
»Durchaus nicht.«
»Er hatte doch Angst, es könne seltsam erscheinen wegen dieses Jahrestags.«
»Was macht es mir aus, was die andern denken? Ich finde es grotesk, sich in Gefühlsdingen um die andern zu kümmern. Man fühlt für sich, nicht für das Publikum. Mademoiselle, die wenig Zerstreuung hat, macht sich ein Fest daraus, in dies Konzert zu gehen; dessen will ich sie nicht berauben, um dem Publikum ein Vergnügen zu machen.«
Sie nahm ihren Hut.
Ich faßte ihren Arm: »Aber, Gilberte, es handelt sich nicht darum, dem Publikum eine Freude zu machen, sondern Ihrem Vater.«
»Sie haben mir hoffentlich keine Vorwürfe weiter zu machen!« rief sie mit harter Stimme und machte sich hastig los.
Eine noch kostbarere Vergünstigung widerfuhr mir von den Swann als die, in den Jardin d'Acclimatation oder ins Konzert mitgenommen zu werden. Sie schlossen mich nicht von ihrer Freundschaft zu Bergotte aus, die auch ein Grund des Zaubers war, den sie auf mich damals ausübten, als ich Gilberte noch nicht kannte und mir dachte, ihre vertraute Freundschaft zu dem göttlichen Greise würde sie mir zu der mit größter Leidenschaft geliebten Freundin machen, wenn die Verachtung, die ich ihr einflößen mußte, mir nicht die Hoffnung verwehrte, jemals von ihr in die Städte, die Bergotte liebte, mitgenommen zu werden. Da lud mich eines Tages Frau Swann zu einem großen Frühstück ein. Ich wußte nicht, wer die Gäste sein würden. Beim Eintritt ins Vestibül kam ich durch einen Zwischenfall, der mich einschüchterte, aus der Fassung. Selten versäumte es Frau Swann, die Gebräuche zu übernehmen, die während einer Saison für elegant gelten, sich dann nicht halten und bald wieder aufgegeben werden. So hatte sie vor Jahren ihr ›handsome cab‹ gehabt oder auf eine Einladung zum Frühstück drucken lassen, es sei ›to meet‹ eine mehr oder minder wichtige Persönlichkeit. Oft hatten diese Bräuche nichts Geheimnisvolles und erforderten keine Einweihung. So zum Beispiel die aus England importierte geringfügige Neuerung, die Odette veranlaßte, ihrem Gatten Karten drucken zu lassen, auf denen vor dem Namen Charles Swann ein Mr stand. Nach meinem ersten Besuche bei ihr hatte sie eine dieser ›cartons‹, wie sie sie nannte, bei mir abgegeben. Das hatte noch nie jemand getan; ich war ganz stolz. In meiner Aufregung und Dankbarkeit raffte ich alles Geld, das ich besaß, zusammen, bestellte einen herrlichen Korb Kamelien und sandte ihn Frau Swann. Flehentlich bat ich meinen Vater, seine Karte bei ihr abzugeben, sich aber erst neue machen zu lassen, auf denen vor seinem Namen ein Mr stehe. Er schlug mir beide Bitten ab, ein paar Tage hindurch war ich verzweifelt, dann fragte ich mich, ob er nicht doch am Ende recht habe. Die Verwendung eines Mr war, wenn auch zwecklos, immerhin klar. Das traf nicht zu für einen andern