um unserem Geist etwas anderes als Verwirrung zu bereiten, – sie uns unzugänglich gemacht, unberührt aufbewahrt hat; und nun kommt gerade sie, an der wir täglich vorübergingen, ohne es zu wissen, sie, die aufgesparte, durch die Macht ihrer Schönheit unsichtbar gewordene, die unbekannt gebliebene, als letzte zu uns. Von ihr werden wir aber auch als letzter lassen. Wir werden sie länger lieben als die andern, weil wir mehr Zeit gebraucht haben, um sie lieben zu lernen. Und diese Zeit, die ein Individuum braucht – wie ich bei dieser Sonate –, um in ein tieferes Werk einzudringen, ist nur der Abriß, gleichsam das Symbol der Jahre, bisweilen der Jahrhunderte, die vergehen, ehe das Publikum ein wahrhaft neues Meisterwerk lieben kann. So wird denn der geniale Mensch, um dem Mißverständnis der Menge zu entgehen, sich vielleicht sagen, Werke, die für die Nachwelt geschrieben sind, sollten auch nur von ihr gelesen werden, da den Zeitgenossen der nötige Abstand fehlt, und es so geht wie bei gewissen Bildern, die man aus der Nähe schlecht beurteilen kann. Aber in Wirklichkeit ist jede feige Vorsicht, um falsche Urteile zu vermeiden, nutzlos, sie sind unvermeidlich. Ein geniales Werk findet beim Erscheinen so wenig Bewunderung, weil der, welcher es geschrieben, ein außerordentlicher Mensch ist und wenig Leute ihm ähneln. Doch wird sein Werk die seltenen Geister, die fähig sind, es zu verstehen, befruchten, und ihre Zahl wird sich mehren. Die Quartette von Beethoven (das zwölfte, dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte) haben fünfzig Jahre gebraucht, um ihr Publikum sich zu schaffen und es zu mehren und so, wie alle Meisterwerke, einen Fortschritt, wenn nicht im Werte der Künstler, so doch in der Gesellschaft der Geister verwirklicht, die heut voller Wesen ist, die das Meisterwerk lieben können; und solche Wesen waren zur Zeit seines Erscheinens unauffindbar. Was man Nachwelt nennt, ist die Nachkommenschaft des Werkes. Das Werk (um der Einfachheit halber Genies nicht mit in Betracht zu ziehen, die in derselben Epoche parallel ein besseres Publikum für die Zukunft vorbereiten können, das dann wieder anderen Genies entgegenkommt) – das Werk schafft selbst seine Nachwelt. Wird das Werk also geheimgehalten und erst der Nachwelt bekanntgegeben, so wird diese für das Werk nicht Nachwelt, sondern ein Haufe von Zeitgenossen sein, die einfach fünfzig Jahre später leben. Drum muß der Künstler – und das tat Vinteuil – wenn er will, daß das Werk seinen Weg nimmt, es da, wo Tiefe genug ist, mitten in die ferne Zukunft hineinwerfen. Wenn es der Irrtum der schlechten Kunstrichter ist, mit dieser Zukunft, der eigentlichen Perspektive der Meisterwerke, nicht zu rechnen, so ist es bei den guten Kritikern gefährliche Gewissenhaftigkeit, mit ihr zu rechnen. Da uns am Horizont alle Dinge gleichförmig erscheinen, ist es zu verstehen, wenn wir uns einbilden, alle Revolutionen, die bisher in der Malerei und Musik stattgefunden haben, hätten immerhin sich an gewisse Regeln gehalten und nur, was unmittelbar vor uns liegt, Impressionismus, absichtliche Dissonanz, ausschließliche Anwendung der chinesischen Skala, Kubismus, Futurismus, steche grell von dem Vorhergegangenen ab. Vorhergegangenes sieht man eben an, ohne in Betracht zu ziehen, daß eine lange Assimilation es für uns in eine zwar vielfältige, aber im ganzen doch homogene Masse verwandelt hat, in der Victor Hugo Molières Nachbar ist. Bedenken wir doch nur, welch verdrießliche Mißverhältnisse ein Horoskop unseres eigenen reifen Alters, das man uns während unserer Jugend gestellt hat, ergeben würde, wenn wir nicht mit der Zukunft und den Änderungen, die sie mit sich bringt, rechneten. Allein, die Horoskope stimmen nicht immer, und wenn man bei einem Kunstwerk in das Gesamtwesen seiner Schönheit den Faktor Zeit mit einbeziehen soll, mengt man, unseres Erachtens, etwas so Zufälliges und darum ebenso jedes wahren Interesses Entbehrendes ein wie jede Prophezeiung es ist, deren Nichterfüllung ja die geistige Mittelmäßigkeit des Propheten nicht einschließt, denn was die Möglichkeit schafft oder ausschließt, dafür ist das Genie nicht notwendigerweise kompetent; es kann einer Genie besessen haben, ohne an die Zukunft der Eisenbahn oder des Flugzeugs geglaubt zu haben, es kann einer ein großer Psychologe sein, ohne die Falschheit der Geliebten oder des Freundes zu merken, deren Untreue mittelmäßigere Leute vorhergesehen hätten.
Wenn ich die Sonate nicht verstand, so war ich doch entzückt, Frau Swann spielen zu hören. Ihr Anschlag hatte für mich in Verbindung mit ihrem Peignoir, dem Duft auf ihrer Treppe, ihren Mänteln und Chrysanthemen teil an einem eigentümlichen, geheimnisvollen Ganzen und gehörte in eine Welt, die weit über der stand, in welcher Vernunft das Talent analysieren kann »Nicht wahr? Schön ist diese Sonate von Vinteuil!« sagte Swann zu mir. »Der Augenblick, wenn es Nacht wird unter den Bäumen, wenn die Arpeggien der Violine Frische niedergehn lassen. Sie müssen zugeben, daß das sehr hübsch ist. Die ganze Banngewalt des Mondscheins liegt darin, und das ist seine wesentliche Seite. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Lichtkur, wie meine Frau sie macht, auf die Muskeln wirkt; denn Mondlicht hindert die Blätter sich zu regen. Das kommt gut heraus in dieser kleinen Passage, es ist das Bois de Boulogne, wie es starr daliegt. Am Meeresstrande ist es noch frappanter, man hört die Wellen, wie sie schwach einander antworten, da das übrige sich nicht bewegen kann. In Paris hingegen bemerkt man höchstens ungewohnte Lichter auf den Bauwerken, einen Himmel, den farbloser, gefahrloser Brand erhellt; man ahnt etwas wie eine unerhörte Sensation. Aber in der kleinen Passage bei Vinteuil ist es etwas anderes und eigentlich in der ganzen Sonate; das spielt im Bois, in dem Doppelvorschlag hört man die Stimme eines Menschen deutlich sagen: Man könnte fast seine Zeitung lesen.« – Diese Worte Swanns hätten für später meine Auffassung der Sonate fälschen können, denn die Musik ist nicht exklusiv genug, um absolut alles auszuschließen, was man in ihr zu finden uns suggeriert. Aber aus andern seiner Wendungen entnahm ich: dies nächtliche Laub war nichts anderes als einfach das Blattwerk, in dessen dichtem Schutz er manchen Abend in verschiedenen Restaurants nah bei Paris die kleine Passage gehört hatte. Statt tiefen Sinnes, den er oft in ihr gesucht, brachte sie Swann Blätterreihen und Blätterbüschel (und die Sehnsucht, dies Laub wiederzusehen, dem sie seelenhaft innezuwohnen schien); sie brachte ihm einen ganzen Frühling, den er ehedem nicht genossen, weil er fiebernd und kummervoll, wie er damals war, nicht genug gesundes Dasein für sie bereit hatte; diesen Frühling hatte sie ihm aufbewahrt (wie man für einen Kranken es mit guten Dingen tut, die er nicht hat genießen können). Nach dem Zauber, den gewisse Nächte im Bois auf ihn übten, und von dem ihm die Sonate von Vinteuil etwas sagen konnte, hätte er Odette nicht gefragt, obwohl sie ihn damals ebenso begleitete wie die kleine Passage bei Vinteuil. Aber Odette war nur neben ihm (nicht in ihm wie das Motiv von Vinteuil) und konnte, hätte sie auch tausendmal mehr Verständnis gehabt, das nicht sehen, was sich bei keinem von uns (wenigstens habe ich lange Zeit gemeint, daß diese Regel keine Ausnahme dulde) nach außen hin manifestieren kann. »Es ist doch im Grunde recht hübsch,« sagte Swann, »daß der Ton das Licht zurückwerfen kann wie Wasser oder ein Spiegel. Sie müssen wissen, daß die Passage von Vinteuil mir immer nur all das zeigt, worauf ich zu jener Zeit nicht achtgab. Von meinen damaligen Sorgen und Liebesgefühlen ruft sie nichts wach, die hat sie vertauscht.« »Charles, was Sie da sagen, scheint mir nicht gerade sehr verbindlich mir gegenüber.« »Nicht verbindlich? Frauen sind großartig! Ich wollte nur einfach dem jungen Manne sagen: was die Musik zeigt –wenigstens mir–, ist durchaus nicht der ›Wille an sich‹ oder die ›Synthese des Unendlichen‹, sondern zum Beispiel der alte Verdurin im Gehrock im Palmenhaus des Jardin d'Acclimatation. Tausendmal hat mich, ohne daß ich das Haus zu verlassen brauchte, die kleine Passage ins Pavillon d'Armenonville zum Diner mitgenommen. Mein Gott, das ist doch jedenfalls weniger langweilig als mit Frau von Cambremer hinzugehen.« Frau Swann lachte; »Das ist eine Dame, die sehr in Charles verliebt gewesen sein soll«, erklärte sie mir im selben Tone, in dem sie kurz vorher von Ver Meer van Delft, den sie zu meiner Verwunderung kannte, gesagt hatte: »Das kommt davon, daß unser verehrter Freund sich viel mit diesem Maler befaßte zur Zeit, als er mir die Cour machte. Nicht wahr, Charlie?« »Was reden Sie da für Zeug von Frau von Cambremer?« sagte Swann; im Grunde war er geschmeichelt. »Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat. Übrigens scheint sie sehr intelligent zu sein, ich kenne sie nicht. Ich halte sie für sehr »pushing«, was mich bei einer intelligenten Frau wundert. Aber alle Welt sagt, daß sie toll auf Sie war, das hat nichts Kränkendes.« Swann stellte sich taub, das war eine Art Bekräftigung und ein Beweis von Eitelkeit. »Da das, was ich da spiele, Sie an den Jardin d'Acclimatation erinnert,« begann Frau Swann wieder und stellte sich im Scherz pikiert, »könnten wir bald einmal eine Spazierfahrt dahin machen, wenn das den Kleinen amüsiert. Es ist schönes Wetter, und Sie werden da Ihre teuren Erinnerungen wiederfinden! Beim Jardin d'Acclimatation fällt mir ein, dieser junge Mann meint, wir liebten eine Person sehr, die ich im Gegenteil, so oft ich kann, schneide, nämlich Frau Blatin! Ich finde es demütigend für uns, daß sie für