Isländische Abhandlungen zur eigenen Geschichte tun sich bis heute schwer damit, Begriffe wie »Unterdrückung«, »Ausbeutung«, »Kolonie« oder »Isolation« zu verwenden. Liest man zum Beispiel den Geschichtsatlas (Söguatlas), der sich an eine breite Masse wendet, finden sich immer wieder Formulierungen wie diese: »Auch wenn die Isländer seit 1262 mit einem ausländischen König und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einem [dänischen] Handelsmonopol lebten, durften sie größtenteils frei schalten und walten. Die dänische Herrschaft versuchte eigentlich nicht, die Isländer zu irgendetwas zu zwingen, und die meisten waren mit der Regierungsform zufrieden.« Es klingt immer, als wolle man es sich nicht verscherzen.
So wurde im Unionsgesetz von 1918 nicht nur Islands weitgehende Souveränität, sondern auch dessen uneingeschränkte Neutralität festgeschrieben. Island war stets ein unbewaffnetes Land mit wenigen Menschen und somit, wenn es hart auf hart kam, dem Gutdünken der Großmächte ausgeliefert. So konnte es sich zwar 1940 bei der Ankunft der Briten auf seine Neutralität berufen, sie aber nicht durchsetzen. Neutralität war deshalb letztlich immer eher ein frommer Wunsch denn Realität. Diese gewisse Hilflosigkeit ist tief im Bewusstsein verankert, wie mir in Gesprächen immer wieder versichert wird, und könnte mit eine Ursache für das Anlehnen an Europa und Amerika und das gleichzeitige Zurückschrecken vor beiden sein. Ein anderer Grund ist unzweifelhaft, dass Island in wirtschaftlicher Hinsicht schon immer vom Ausland abhängig war und auch immer sein wird, denn es ist nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen.
In dem Spannungsfeld zwischen »unbedingtem Willen zu Unabhängigkeit« und »auf Andere angewiesen sein« muss auch das Verhältnis zu den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen werden, in dessen Verlauf Island aufgrund mehrerer glücklicher Umstände die volle Unabhängigkeit erreicht. Schon 1941, mit der Akzeptanz der USA als Schutzmacht, hatte es seine Neutralität aufgegeben und seine zunehmende Orientierung nach Westen begonnen. Zwar war ursprünglich vereinbart worden, dass die Amerikaner bei Kriegsende das Land sofort verlassen, sie äußerten aber den Wunsch, bleiben zu dürfen. Aufgrund der zunehmenden Teilung Europas in eine westliche und eine östliche Interessensphäre wuchs Islands strategische Bedeutung zum Beispiel als Zwischenlandeplatz zwischen Amerika und Europa. Schließlich unterzeichnete die isländische Regierung 1946 einen Vertrag, der die Amerikaner zum Abzug innerhalb von 180 Tagen verpflichtete und den Flughafen in Keflavík den Isländern übereignete. Gleichzeitig sollten die Amerikaner ihn und die dortige Technik jedoch nutzen dürfen, »um ihren Pflichten als Besatzungsmacht in Deutschland« nachkommen zu können. Was das genau bedeutete, wurde nicht ausgeführt. Der »Keflavík-Vertrag« sollte fünf Jahre unkündbar sein. Er wurde mit 32 Stimmen und 19 Gegenstimmen vom Alþingi verabschiedet, was einen Generalstreik zur Folge hatte und die Gemüter so sehr erregte, dass aus der Affäre der Stoff für den Roman Atomstation des späteren Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness wurde.
Es ist heute schwierig nachzuvollziehen, dass so viele Isländer in dem Vertrag die Fortführung der Besetzung und eben eine Einschränkung ihrer Unabhängigkeit sahen. Ich habe oft erlebt, dass dieses Thema Menschen, die 1946 schon geboren waren, auch heute noch einen hochroten Kopf beschert – entweder weil sie sich über die Unterzeichnung noch immer empören oder weil sie sich weiterhin über die Proteste echauffieren. Ein Grund war sicherlich, dass die unabhängige Republik Island gerade erst zwei Jahre alt war und deshalb auf die militärische Präsenz einer Großmacht besonders empfindlich reagierte.
Doch Island setzte seine Orientierung nach Westen weiter fort und schloss nach Ablauf des »Keflavík-Vertrages« als Mitglied der NATO, das es 1949 geworden war, erneut einen Vertrag mit den USA, die Island als unbewaffnetem NATO-Mitgliedsstaat militärischen Schutz garantierten. Zu diesem Zweck blieb die amerikanische Armee auf ihrem Stützpunkt am Flughafen bzw. sie kam dahin zurück, denn die Soldaten hatten infolge des »Keflavík-Vertrages« das Land zwischenzeitlich ja verlassen. Auch der neue Vertrag wurde dem Alþingi erst nach heftigen Protesten der Sozialisten und schon unterzeichnet vorgelegt. 1953 gründete sich eine Partei, deren Hauptziel der Abzug der Amerikaner war und die bei den Wahlen im selben Jahr immerhin zwei Mandate gewann.
Die Opposition erst gegen den Vertrag und dann gegen den Militärstützpunkt flaute auch in den 1960er Jahren nicht ab, als die Gegner sich organisierten und regelmäßig Demonstrationen, Kundgebungen und Unterschriftensammlungen veranstalteten. Zwischendurch gab es immer mal Regierungen, die sich für einen Abzug starkmachten, ihn dann jedoch nicht durchsetzen konnten. Man kann sagen, dass im Hinblick auf die Militärbasis in Keflavík niemals Einigkeit herrschte und das Thema von 1941 bis 2006 immer irgendwie aktuell war. Es fanden allerdings keine Proteste statt, als mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch die USA und die NATO der Flughafen so ausgebaut wurde, dass er seit 1987 dem internationalen Flugverkehr gewachsen und der isländischen Allgemeinheit sehr von Nutzen ist. Über die US-Armee waren über viele Jahre Devisen ins Land gekommen und mehrere hundert Arbeitsplätze gesichert worden. Das wird sicher mit ein Grund für die isländische Unterstützung des Einmarschs der USA im Irak 2003 gewesen sein.
Als im September 2006 der letzte amerikanische Soldat Island verlässt, bedauert die Mehrheit der Isländer den Komplettabzug der Amerikaner – vor allem das bürgerlich-konservative Lager um die – ausgerechnet – Unabhängigkeitspartei. Es gibt aber auch einige jubelnde Stimmen. So bleiben die Bevölkerung und das Land gespalten zwischen der Angst vor Vereinnahmung und der Sehnsucht nach ausländischer Unterstützung.
Englisch oder Dänisch?
Streng genommen ist die Orientierung nach Westen den Isländern von Anbeginn eingeschrieben und begann nicht erst im Zweiten Weltkrieg. Schließlich kamen sie selbst aus östlicher Richtung, um Land westlich ihrer ursprünglichen Heimat zu besiedeln – so auch laut Landnámabók Erik der Rote. Er musste Norwegen wegen eines Tötungsverbrechens verlassen. Demut war offenbar nicht seine Stärke, denn auch in seiner neuen Heimat legte er sich schnell mit seinen Nachbarn an und wurde verbannt. Anstatt in bekannte, südlich gelegene Gefilde segelte er um 985 in westliche Richtung und fand eine Küste, von der er vielleicht schon gehört hatte, die ihm besiedelbar erschien und der er bei seiner Rückkehr aus der Verbannung den euphemistischen Namen Grönland (»Grünland«) gab. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass es zu Eriks Zeiten wirklich wärmer war und er tatsächlich eine grüne Küste gefunden haben könnte. Vielleicht nicht zuletzt deshalb folgten ihm bei seiner Auswanderung dorthin 100 bis 150 Isländer. Die Neugrönländer gingen den isländischen Weg: Sie gründeten ein Thing, traten zum Christentum über und trieben mit Elfenbein aus Walross- und Narwalzähnen Handel mit Norwegen. Im 15. Jahrhundert verliert sich ihre Spur.
Der Entdecker Erik der Rote ist somit einer der wenigen Isländer (oder doch eher Norweger?), die die Bezeichnung »Wikinger« verdienen. Er spielt in zwei Sagas die Hauptrolle und bekam an dem Ort, an dem er es sich mit den Isländern verscherzte, mit Eiríksstaðir ein Museum, das – wie so viele andere im Lande auch – vor allem das Lebensgefühl jener Zeit transportieren soll. Auf Grundlage einiger archäologischer Ausgrabungen vor Ort wurde ein damaliges Wohnhaus nachempfunden, wo kostümierte Isländer am gasbetriebenen Lagerfeuer erklären, wie seinerzeit der Alltag war. Überdachte Texttafeln vermitteln die spektakulärsten Episoden aus Eriks Leben und gehen auch auf seinen Sohn Leif ein.
Dieser muss das West-Gen seines Vaters geerbt haben, da er weiter segelte – entweder weil vor ihm schon ein anderer isländischer Grönländer im Westen Land gefunden hatte, das Leif nun erkunden wollte, oder weil er selbst dort Land vermutete. Vermutlich sah er die Baffin-Insel, Labrador und Neufundland, wo Ausgrabungen eine wikingerzeitliche Siedlung ans Tageslicht brachten. Es steht also außer Frage, dass Nordeuropäer vor Kolumbus in Amerika gesiedelt haben. Leifs »Entdeckung« blieb für die Weltgeschichte jedoch ohne große Folgen, was die Isländer bis heute schmerzt. Stoisch feierten sie im Jahr 2000 die »Entdeckung Amerikas«, die sich ungefähr im Jahr 1000 ereignet haben muss, sowohl mit einer Überquerung des Atlantiks mit einer Knorr als auch mit der Herausgabe einer 1000-Kronen-Münze mit Leifs Konterfei. Ein Jahr später wurde mit den Einnahmen aus dem Verkauf der Sonderprägung die Leif-Eriksson-Stiftung gegründet, um die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Island und den USA zu vertiefen.
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