Martin Luther.5 Der Kusaner musste in Erfüllung seiner Aufträge für die Gelehrten des europäischen Ostens ohnehin sprachenkundig und gesprächsfähig sein.
1425 ließ sich der junge Kirchenrechtler an der Universität Köln immatrikulieren, wo mehr als ein Jahrhundert zuvor die Meister aus dem Dominikanerorden, an ihrer Spitze Albertus Magnus und Thomas von Aquin, das Hochschulwesen bestimmt haben. Es galt, sein philosophisches und theologisches Wissen zu vertiefen. Bedeutsam wurde für ihn die Bekanntschaft mit den Gedanken des Dionysios Areopagita und dessen negativer Theologie. Es ist jene Theologie, die trotz allen Wahrheitsstrebens darauf verzichtet, ein zureichendes Wissen vom Wesen Gottes zu beanspruchen. Sie geht von der Einsicht aus, dass keine der üblichen Aussagen über Gott ihm selbst, dem lebendigen Gott, angemessen sein kann. Er bleibt transzendent. Man mag zwar immer neue Gottesbilder entwerfen, aber die Tiefe der Gottheit bleibt unerreichbar. Um es durch ein Paradox anzudeuten: Wer Gott erfahren hat, der hat ihn letztlich nicht erfahren!
Um für die Begegnung mit dem Osten gerüstet zu sein, reiste Nikolaus mit seinem Kölner Lehrer Heymericus de Campo nach Paris, um die Schriften des Katalanen Raymundus Lullus (Ramon Llull; 1232/35 – 1316) näher kennenzulernen. Als Doctor illuminatus tituliert, war auch er ein universell gebildeter Gelehrter, der in seiner Heimat mit den Überlieferungen der Troubadourdichtung aufgewachsen war. Er zählt zu den allerersten abendländischen Wegbereitern für eine Begegnung mit den Weltreligionen, insbesondere mit dem Islam und dessen sufitischer Mystik. Berühmt wurde Llull durch sein in diesem Geist geschriebenes Werk »Das Buch vom Freunde und vom Geliebten« (Libre de Amic e Amat)6. Insofern steht der Cusanus, was seine eigenen Gesprächskontakte mit den Muslimen anlangt, auf den Schultern des großen Katalanen.
Statt einen ihm zweimal angebotenen Lehrstuhl an der neu gegründeten Universität Löwen anzunehmen, war Cusanus als Anwalt tätig und diente, etwa von 1425 an, als Sekretär des Erzbischofs von Trier. Die durch allerlei Streitigkeiten beunruhigte, stets der Reform bedürftige Kirche lud ihn alsbald zu ihrem Konzil nach Basel ein, an dem er mitwirkend teilnahm. Bei der Auseinandersetzung in der Frage, ob die Partei der Konzilsväter (Konziliaristen) oder die der Papst-Anhänger die Konzilsoberhoheit haben sollten, schlug er sich nach anfänglichem Zögern auf die päpstlich-kuriale Seite. Ihm lag, wie es seinem Grundanliegen entsprach, an der Einheit der Kirche, die er am ehesten durch den Träger der zentralen Macht in Rom gewährleistet sah. Vor allem bemühte man sich während des teils in Basel, dann teils in Ferrara und in Florenz agierenden Konzils, zu einem Ausgleich zu kommen. Schließlich nahm Cusanus 1437 an Verhandlungen mit der getrennten Ostkirche in Konstantinopel teil.7 Die Bemühungen um eine Aufhebung der großen Kirchenspaltung (Schisma), bei denen er erwartungsgemäß römische Interessen unterstützte, führten damals jedoch über formale Einigungsformeln kaum hinaus. Für Nikolaus war es wichtig, dass er einen etwa zweimonatigen Aufenthalt in Konstantinopel unter anderem zur Fortführung seiner schon in Basel betriebenen Koran-Studien nutzen konnte. Diese schlugen sich in einigen seiner späteren Schriften nieder, speziell in »Die (kritische) Sichtung des Korans« (Cribratio Alchoran, 1461).
Auch die kirchliche Hierarchie bestimmte seine weitere Karriere. Verhältnismäßig spät (zwischen 1436 und 1440) empfing er die Priesterweihe. Dagegen dauerte es nur acht Jahre, bis er 1448 durch Papst Nikolaus V. die Kardinalswürde erlangte. 1450 wurde ihm als Bischof die Diözese von Brixen anvertraut. Aus dem Mann aus der Provinz und aus der Familie eines schlichten Moselschiffers war ein Oberer seiner Kirche geworden, dazu ein Philosoph und ein international agierender Diplomat der römischen Kirche. Die langjährige Freundschaft mit dem Humanisten und Dichter Enea Silvio Piccolomini, der 1458 als Pius II. den päpstlichen Stuhl bestieg, bahnte seinen Weg, um in Rom an der Spitze der westlichen Christenheit beratend tätig zu sein. Vergebens suchte Nikolaus in sein Tiroler Bistum zurückzukehren, zumal er in der heiligen Stadt die Funktion eines Legaten und Generalvikars der römischen Diözese zu erfüllen hatte, von der er wegstrebte. Zu seinen Funktionen in der »heiligen Stadt« gehörte auch die schwierige Aufgabe eines Friedensstifters, der bestrebt sein musste, die Rechte der Kirche vor Übergriffen der politisch Mächtigen zu schützen.
Nach einer Erkrankung, die sich Nikolaus von Kues auf dem Weg nach Venedig und in Vorbereitung eines sogenannten »Kreuzzugs gegen die Osmanen« zugezogen hatte, verstarb Nikolaus von Kues erst 63jährig am 11. August 1464 in dem umbrischen Bergstädtchen Todi. Sein Grab befindet sich in seiner römischen Bischofskirche in S. Pietro in Vincoli (Sankt Peter in Fesseln), während sein Herz, seinem ausdrücklichen Wunsch gemäß, in der Kapelle des von ihm und seinen Angehörigen gestifteten Sankt-Nikolaus-Hospitals in Kues, also an seinem Geburtsort, beigesetzt ist. Im dortigen Hospital hütet man auch seine umfangreiche Bibliothek, die er als Gelehrter in Gestalt seltener Handschriften im Laufe seiner Schaffensjahre zusammengetragen hatte. Die Mittel dazu und für die im Spital zu betreuenden Armen schöpfte er aus zahlreichen gut dotierten Pfründen und Privilegien.
III. Elemente seines Denkens
Obwohl Nikolaus infolge seiner ausgedehnten, in der Regel auftragsbedingten Reisen durch Deutschland, in Italien, nach Athen und bis nach Konstantinopel ein überaus bewegtes Leben führte, ist der Umfang seines literarischen Schaffens beträchtlich. Gott, Welt, Mensch, der innere wie der äußere Friede bestimmen sein auf Ausgleich und Versöhnung angelegtes Denken. Auf eine universell aufzufassende Ganzheit hin, in der Gegensätze eine komplementäre Rolle spielen, sind seine philosophischen und theologischen Schriften ausgerichtet. Durch sie hat er schon zu Lebzeiten Anerkennung und schließlich einen prominenten Platz in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte erworben.8
Versucht man sein Lebenswerk auf einen einfachen Nenner zu bringen, dann darf von seinem unablässigen Streben nach Erkenntnis wie nach Verwirklichung einer allem zugrunde liegenden Einheit gesprochen werden. Zu überwinden war ein Denken, das sich prinzipiell einem Verharren in unversöhnlichen Gegensätzen verschrieben hat. Was er auf der religionsphilosophischen Ebene als Zusammenfallen (Koinzidenz) aller denkbaren Gegensätze (coincidentia oppositorum) begreiflich zu machen suchte, das fand in seinen innerkirchlichen wie weitreichenden kirchendiplomatischen Aktivitäten eine historisch bemerkenswerte Entsprechung. Es ging ihm sowohl um die Reform der Kirche (Ecclesia semper reformanda) großen Stils, etwa im Verhältnis von Papsttum und den Bischöfen, als auch mit Blick auf die Reformbedürftigkeit von Ordensgemeinschaften um das fragwürdig gewordene Leben in vielen Klöstern sowie um beklagenswerte regionalkirchliche Verhältnisse. Dabei wird ihm nachgesagt, dass er in seinem Eifer zuweilen verurteilende Härte zeigte und in Feindseligkeiten – zumindest ausnahmsweise – vor Gewaltanwendung nicht zurückschrak. Wie schon beim Blick auf Nikolaus’ Lebenslinien erwähnt, ist seinen Bemühungen um Verständnis, Dialog und Begegnung mit anderen Religionen, selbst mit dem Islam, eine besondere Bedeutung beizumessen. Nikolaus predigt, schreibt und stellt sich dem freimütigen Gespräch – und in der Regel leitet ihn das Lebensthema dieses zur Harmonisierung des Gegensätzlichen tendierenden Menschen.
Von ihm selbst erfahren wir von einem inspirativen Moment, als ihm als ein »Geschenk des Himmels vom Vater des Lichts« eine wichtige Einsicht zuteil wurde – geschehen 1438 anlässlich einer stürmischen Überfahrt von Athen nach Venedig, als er den griechischen Kaiser samt dem ostkirchlichen Patriarchen von Konstantinopel zum Unionskonzil nach Ferrara zu begleiten hatte. Und jenes Himmelsgeschenk besteht für ihn in der spontan auftretenden Einsicht, dass das Unbegreifliche naturgemäß nicht etwa auf begreifliche Weise zugänglich sei. So wie nach einem Wort des Apostels Paulus (1 Kor 13,9) »unser Wissen Stückwerk« ist, so entzieht sich die absolute Wahrheit dem menschlichen Bestreben, das Wissen auf allen Gebieten zu erweitern. Doch die Wahrheit bleibt – so ist er überzeugt – der Unwissenheit anheimgegeben. Sie nimmt den Charakter einer »belehrten Unwissenheit«, einer docta ignorantia, an. Auch wenn sich dieses Gewahrwerden für ihn als eine unvermittelt scheinende Erkenntnis darstellt, ist es doch zugleich auch Resultat seines jahrelangen Erkenntnisringens.
In seinen beiden Hauptwerken De docta ignorantia, 1440 im heimatlichen Kues fertiggestellt, und dem thematisch daran anschließenden über das Wesen von Mutmaßungen (De coniecturis) sowie in weiteren Schriften hat Nikolaus die Ergebnisse seines Denkens niedergelegt und in den daraus sich ergebenden Konsequenzen erläutert. Analog zu den Erkenntnisbemühungen antiker