Aus diesem kirchlich-christlichen Vorverständnis macht er kein Hehl!
Als Philosoph steht der Cusaner in der großen Tradition des abendländischen Denkens. Seine Gewährsleute sind Platon, der mythische Hermes Trismegistos9 und die Lehrmeister der zur christlichen Mystik hinleitenden neuplatonisch-christlichen Philosophie, an ihrer Spitze der namenlos um 500 schreibende (Pseudo-)Dionysios Areopagita, dem die Mystik des Mittelalters, unter anderem auch Meister Eckhart und dessen Schule, verpflichtet gewesen ist. Auf dieser Basis formuliert Nikolaus die Elemente seines auf die Gott-Suche ausgerichteten Denkens. Es ist entfaltet in einer Reihe von Schriften, wie etwa in seiner Trilogie zum Gottesbild. Dabei widmet er sich der Gottsuche (De quaerendo Deum), besinnt sich auf das Wesen der Gotteskindschaft (De filiatione) und bezieht die Verborgenheit Gottes (De Deo abscondito) ein. In Spannung dazu stehen Überlegungen zu einer Gottesschau (De visione Dei) bis hin zum Gipfel eines solchen Schauens (De apice theoriae), und zwar – in der erklärten Nachfolge des großen Areopagiten – stets in dem Bewusstsein, dem Absoluten in seiner Tiefe erkennend gar nicht gewachsen zu sein. »In der geschaffenen Welt ist die Einheit ›entfaltet‹ zu einer Vielheit des Andersseins, dem unterscheidenden Verstand zugänglich. Mit der Vernunft können wir uns darüber hinaus in einem ›incomprehensibiliter inquirere‹, einem Forschen, das das Begreifen im mystischer Weise übersteigt, der Wahrheit nähern und das Unendliche ›berühren‹.«10
Von Nikolaus von Kues sind vielfältige, bisweilen divergierende Wirkungen ausgegangen. Bemerkenswert ist, dass sein Schrifttum auch nach seinem Tod in zunehmendem Maße gefragt war. So zählt man zwischen 1488 und 1565 allein fünf Werkausgaben, dazu die Verbreitung mehrfach aufgelegter einzelner Texte. »Dabei ging es um so disparate Fragen wie die nach den Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit, nach der Reichweite rationaler Argumentation in der Theologie oder nach der Möglichkeit einer Rekonstruktion der ursprünglichen Weisheit (prisca sapientia), ferner um kosmologische Probleme wie das der Unendlichkeit des Alls und der Pluralität der Welten und mathematische Probleme wie das der Quadratur des Kreises, immer aber um die docta ignorantia und die coincidentia oppositorum. In diesen und anderen Themenbereichen wurden die Gedanken des Cusaners rezipiert.«11
Zu seinen Lebzeiten wurden seine Gedanken beispielsweise im Gedankenaustausch mit Ordensleuten bekannt. Dazu gehörten beispielsweise die Benediktiner, Abt und Prior im Kloster Tegernsee. Weil sich der Briefwechsel in wesentlichen Teilen erhalten hat, sind wir über die Argumentationsweisen im Bilde.12 Ihnen erläutert er unter anderem seine zentrale, berühmt gewordene These von dem Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum). Die Schöpfung ist ein einziges Dokument der Entfaltungs- und Offenbarungsmöglichkeiten Gottes. Oder unter dem speziellen cusanischen Aspekt, durch den Gottes Überfülle zum Ausdruck gebracht werden soll: »Gegensätze, die in Gott eins sind, in der Welt aber auseinandertreten: in jener Welt, die als ›explicatio Dei‹, als Entfaltung jenes Gottes zu verstehen ist, der selber das Viele ohne Vielheit und der Gegensatz in der Identität ist. Dies ist ein Denken, das geradewegs zum deutschen Idealismus, zu Hegel, aber auch zu Whitehead und Teilhard de Chardin führt.«13 Dieser Zusammenfall des bei vordergründiger Betrachtung nicht zu Vereinbarenden gehe ebenfalls über das nur verstandesmäßige Erkennen hinaus und sei allein dem schauenden Erkennen der Vernunft, der visio intellectualis, nicht aber dem Verstand (ratio) zugänglich. Weil aber in Gott die Gegensätze zusammenfallen, ist er der Eine schlechthin.14 Genannt wird ferner der Kartäuser Dionysius.
Zu den Ersten, die die Bedeutung des Cusanus erkannt und bekannt gemacht haben, zählt Giordano Bruno (gest. 1600). Analog zur Würdigung Platons sprach er geradezu vom »göttlichen Cusanus«. Bruno schloss denkend an Nikolaus an, indem er den Begriff von der Unendlichkeit Gottes und der Natur weiter bewegte. Damit ist die Schwelle zum neuzeitlichen Bewusstsein betreten. Bislang als gültig angesehene scholastische Vorstellungsformen sind aufgebrochen. Kaum minder bedeutsame Einflüsse lassen sich auf Marsilio Ficino (gest. 1499) und den früh vollendeten Pico della Mirandola (1463 – 1494) nachweisen. Protestantische Kreise meinten, beim Cusaner reformatorische, zu Martin Luther führende Ansätze zu entdecken. Fernwirkungen haben Lessing erreicht. Ob das auch mit Blick auf Spinoza, Leibniz, Fichte, Schelling und Hegel gilt, wird bezweifelt – Hegel scheint den Cusanus nicht gekannt zu haben! –, andernfalls hätten die Vorstellungen des Cusanus deutliche Spuren hinterlassen.15 Andere Einflüsse haben im 16. und 17. Jahrhundert Frankreich und England erreicht.
Hinsichtlich der nicht immer einheitlichen Einschätzung der komplexen und zugleich diffusen Wirkungsgeschichte des cusanischen Denkens resümiert Tilman Borsche: »Einerseits spricht man dem Werk des Cusaners einen nennenswerten Einfluss auf die Geschichte der Philosophie, der Theologie sowie der Wissenschaften in den folgenden Jahrhunderten ab. Andererseits gilt sein Werk seit der ›Wiederentdeckung‹ im 19. Jahrhundert für manche als Keim und Vorläufer alles dessen, was für das neuzeitliche Denken bedeutsam geworden ist. Beide Urteile sind charakteristisch für eine neue Wertschätzung des Lehrers der Koinzidenz, können aber nicht als Ergebnisse rezeptionistischer Forschungen gelten.«16 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es ihm nicht gegeben war, den Gesamtertrag seines Werkes in einer Art Summe zu präsentieren und damit die Bildung einer Cusanus-Schule als einer philosophischen Lehrweise zu begünstigen. Dennoch hat Nikolaus von Kues als eine epochale denkerische Gestalt sichtbare Zeichen gesetzt. Dass der Ertrag seines Lebenswerks nicht mit großen Neuigkeiten prunken kann, wie bisweilen – u.a. von Joseph Bernhart – hervorgehoben wird, muss nicht beunruhigen. Immerhin räumt derselbe kritische Betrachter seines Oeuvres ein:
»Unbefangene Versenkung in die Schriften des Cusaners, auch die seines Todesjahres (1464) noch, vernimmt einen Denker, der aus religiöser Tiefe mit dem Rätsel Gottes ringt, im Drange einer kosmisch fühlenden Frömmigkeit die Berührung mit dem Unbekannten sucht, dabei die Kirchenlehre, mit der bebürdet er seinem und der Mitwelt Heil zu dienen hofft, ohne philosophische Notwendigkeit mit sich trägt. Der Scheidestrich, der auch durch seine Mystik läuft, gibt das methodische Recht, ihre philosophische Seite von der theologischen getrennt zu erörtern.«17
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