Christine von Bergen

Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman


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wandern wollen, können Sie Ihren Wagen ruhig bei uns auf dem Hof stehen lassen«, bot sie den beiden an. »Von hier aus gehen schöne Rundwege ab mit keinerlei Steigungen.« Sie sagte das zu dem weißhaarigen Mann, der groß und schwer vor ihr stand. Kaum waren die Worte ihr entschlüpft, als ihr auffiel, er könnte sie falsch verstehen. »Ich meine, auf diesen Rundwegen muss man nicht unbedingt festes Schuhwerk tragen. Sie sind gut begehbar«, versuchte sie, ihre vorherige Bemerkung abzuschwächen.

      Da lachte er, ein Lachen, das ihm aus dem Bauch kam. »Sagen Sie es ruhig, ich sehe nicht gerade nach einem Wandergesell aus, nicht wahr?«

      O nein! Sie spürte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte in die Wangen schoss.

      »Wir sind eigentlich hier, oder hier in der Gegend, um uns umzuschauen«, griff die Frau nun wieder ins Gespräch ein. »Wir suchen ein Wochenendhaus, vielleicht sogar mit einer Jagdmöglichkeit für meinen Mann. Können Sie uns da weiterhelfen?« Die ältere Dame sah sie mit zur Seite gelegten Kopf an, als wollte sie genau mitbekommen, wie ihre Reaktion auf diese Frage ausfallen würde.

      Kaum zuvor hatte sich Julia so sprachlos gefühlt. Gerade noch hatte sie mit ihrer Großmutter über das Thema gesprochen und jetzt stand hier schon ein Paar, das eine Jagdmöglichkeit suchte? Gab es solche Zufälle?

      Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, schüttelte den Kopf, lächelte verwirrt.

      »Darf ich Sie etwas fragen?«, antwortete sie schließlich mit einer Gegenfrage. »Sind Sie Patienten von unserem Landarzt?«

      Vielleicht hatte Dr. Brunner ihnen das Paar geschickt.

      »Dem Landarzt?« Die Frau hob erstaunt die Brauen. »Nein, den kennen wir nicht.«

      »Ach so.« Julia knabberte an ihrer Unterlippe, dann lächelte sie die beiden an. Sie wusste genau, dass ihr Lächeln ihre Unsicherheit ausdrückte. »Tja, dann ist es tatsächlich ein großer Zufall. Ja, sogar ein kleines Wunder. Meine Großmutter und ich, wir wollen unseren Wald verpachten. Als Jagdrevier. Wir haben hier einen artenreichen Wildbestand. Und früher hat mein Opa sich um die Hege und Pflege des Wildes gekümmert. Er ist inzwischen verstorben. Und wir …« Sie räusperte sich.

      In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Plötzlich kam ihr wieder in den Sinn, dass sie vor Kurzem selbst erst Opfer einer Verheimlichung geworden war. Leon hatte ihr seine wahren Beweggründe verschwiegen, aus denen er nach Ruhweiler gekommen war. Nein, sie wollte es ihm nicht nachmachen. Die beiden Menschen waren ihr sympathisch, sie wirkten warmherzig, sie waren den weiten Weg gefahren … Also gab sie sich einen Ruck. »Ich will offen zu Ihnen sein«, sprach sie weiter. »Meine Großmutter und ich brauchen das Geld aus der Verpachtung. Uns bleiben die Gäste aus, weil wir den Urlaubern keinen zeitgemäßen Standard mehr anbieten können. Aber wir wollen die Pension auch nicht schließen. Dr. Brunner, also, unser Landarzt, hat mich auf diese Idee gebracht, und deshalb dachte ich gerade …« Sie sah einen nach den anderen an. Die beiden wechselten einen kurzen, eindringlichen Blick miteinander, dann nickten sie.

      »Wir schätzen Ihre Offenheit und können Ihnen versichern, dass wir ein ernsthaftes Interesse haben. Haben Sie Zeit und Lust, uns durch das Revier zu führen?«

      »Natürlich«, erwiderte sie rasch. Kurz darauf nahm ihr klarer Verstand seine Tätigkeit wieder auf, und ihr Herzschlag stockte einen Moment.

      Sollte sie zusammen mit diesen ihr wildfremden Menschen durch den Wald fahren? Die beiden machten zwar einen sehr angenehmen Eindruck auf sie, aber da war plötzlich tief in ihr ein Gefühl, eine Ahnung, dass sie nicht so zufällig in diese Gegend gekommen waren, wie sie gesagt hatten. Es gab keine Wunder. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und dennoch wollte sie die Chance nicht verpassen, den Wald vielleicht tatsächlich verpachten zu können.

      »Wissen Sie was?« Sie brachte ein Lächeln zustande, das an Glanz verloren hatte. Das spürte sie selbst. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich in meinem Wagen vor Ihnen herfahre? Alle Fragen können wir ja dann nach der Fahrt behandeln bei einer Tasse Kaffee.«

      Wieder wechselten die beiden einen Blick. Einen belustigten, wie ihr schien. Dann nickte der Mann. »Das können wir gern so machen. Darf ich mich und meine Frau Ihnen vorher vorstellen? Aschenbach.« Er deutet eine Verbeugung an.

      »Julia Winter.« Sie reichte ihnen erleichtert die Hand und meinte danach in beschwingten Ton: »Von mir aus kann es losgehen.«

      *

      »Sie sehen schlecht aus«, sagte Matthias zu seinem Patienten. »So, als hätten Sie in den vergangenen Tagen kaum geschlafen.«

      »Habe ich auch nicht«, erwiderte Leon mit gequältem Lächeln. »Erst seit gestern, seit wir miteinander telefoniert haben, geht es mir besser.«

      Der Landarzt lehnte sich zurück und nickte mit anerkennender Miene. »Eines muss ich Ihnen bescheinigen: Sie sind alles andere als wehleidig. Dass Sie bei Ihrer Verletzung mehrmals die weiten Autofahrten auf sich genommen haben … Ich kann Sie jedoch beruhigen. Ihre Schmerzen rühren nur daher, dass Sie sich nicht die nötige Ruhe gegönnt haben. Die Prellung ist nicht schlimmer geworden, wie das Röntgenbild zeigt.«

      »Das ist ja schon mal was«, scherzte Leon halbherzig.

      »Was machen Ihre Lungen?«

      »Ich huste seit Tagen nicht mehr.« Er seufzte dramatisch. »Nur mein Herz.«

      Matthias lachte. »Ich hoffe doch sehr, dass Ihr Plan aufgeht und die Herzschmerzen heute aus der Welt geschafft werden können.«

      »Vergessen Sie nicht, Herr Doktor, an diesem Plan waren Sie maßgeblich beteiligt.« Leon sah den Arzt ernst an. »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie Julia auf den Gedanken gebracht haben, den Wald zu verpachten.« Er seufzte. »Es gibt halt Situationen im Leben, in denen man tatsächlich durch Taten viel mehr aussagen kann und viel glaubwürdiger erscheint als nur durch Worte. Obwohl …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

      »Obwohl?« Matthias hob die Brauen.

      »Hoffentlich hat mich Julia noch nicht vergessen. Ihre SMS klang so endgültig.«

      Der Landdoktor hob beschwichtigend die Hand. »Ich kenne sie seit ihrer Kindheit. Da müsste ich mich schon sehr in ihr täuschen. Sie ist ein sehr ernsthafter und sensibler Mensch. Wenn Julia von Liebe spricht, dann meint sie die Liebe, die ein Leben lang hält.«

      Im nächsten Moment klingelte Leons Handy.

      »Entschuldigung«, stieß er hastig hervor, nahm sein Funktelefon aus der Jackentasche, und ein Lächeln hellte sein Gesicht auf. »Meine Mutter.«

      Er öffnete die Leitung, hörte mit nervöser Miene zu und begann dann zu strahlen.

      »Okay«, sagte er mit aufgeregt klingender Stimme ins Mikrofon. »Wir sehen uns wie verabredet. Bis später.« Er sah Matthias an. »Können Sie mir ein Taxi kommen lassen?«

      »Hat’s geklappt?«, fragte der Landarzt mit erwartungsvollem Blick.

      »Ja. Jetzt bin ich dran.« Leon stieß die Luft scharf aus. »O Mann, so nervös war ich noch nie. Hoffentlich war nicht alles umsonst.«

      »Nur Mut, junger Mann«, munterte ihn Matthias auf. »Die Liebe kann Berge versetzen und den Himmel auf die Erde holen. Die erste Hürde haben Sie doch schon geschafft. Der Berg, den Sie versetzt haben, war Ihr Vater. Jetzt kommt die Kür. Gibt es etwas Schöneres, als sich den Himmel auf die Erde holen können?«

      *

      »Und?« Hilde sah ihre Enkelin zweifelnd an.

      Da nahm Julia sie in die Arme und tanzte mit ihr durch die Küche. Nachdem sie sie wieder losgelassen hatte, antwortete sie mit glänzenden Wangen: »Wenn ich dir sage, wie viel die Aschenbachs uns für die Jagdpacht anbieten, fällst du um.«

      »Sag es.«

      Als sie ihrer Großmutter den Betrag nannte, schlug Hilde mit dankbarem Blick zum Herrgottswinkel ein Kreuz vor der Brust. Kopfschüttelnd sank sie auf die Eckbank.

      »Freu dich doch, Oma. Das bedeutet, dass wir für ein Jahr ein paar Sorgen weniger haben. Und