verlor in einem fort.
Er verlor über hundert Franken in einem einzigen Spiel an Sylvester, weil Sylvester sein Full-hand mit einem Damen-vierling übertrumpfte. Das gab eine Extrarunde mit doppeltem Satz. Eine sogenannte moralische Ehrenrunde.
»Vier Damen – ominös!« sagte Pein.
»Vier Damen sind weniger als eine«, sagte Sylvester.
»Aber nicht beim Poker.«
Bei der moralischen Ehrenrunde wanderte von Geber zu Geber eine kleine unzüchtige Holzschnitzerei, japanischer Herkunft und dem Japaner gehörig, zwei männliche Figuren im widernatürlichen Beischlaf begriffen darstellend.
Der Japaner verlor.
Von ihm glitt das Geld zu Sylvester hinüber. Die Glocke im Sanatorium läutete zum Abendbrot. Der Bulgare klingelte und ließ sich das Essen auf dem Zimmer servieren. Die übrigen verspürten wenig Hunger und sättigten sich eilig an den Kuchenresten, die vom Tee zurückgeblieben waren. Sie tranken dazu Danziger Goldwasser oder Allasch oder Curaçao.
Keiner wollte aufhören zu spielen.
»So gehen Sie doch«, sagte Sylvester zu dem kleinen Japaner. »Sie wollten doch schon vor zwei Stunden gehen.«
Der Japaner zuckte die Achseln und blieb.
Sylvester genoß das Spiel.
»Ein Abbild des Lebens«, sagte der Bulgare. »Wer gibt? Ich habe die schönsten Stunden meines Lebens am Spieltisch verbracht. Schönere als je mit Frauen.«
»Nur wer mit dem Gelde spielt, soll spielen«, sagte Sylvester.
Pein zupfte nervös an seinem Fransenbart. Er verlor noch immer.
»Ich werde meinen Verlust wieder einholen«, sagte er zitternd.
»Das werden Sie nicht«, trumpfte Sylvester seinen Zehnerdrilling mit einem Flush. »Sie sind nur noch hier in Davos möglich. Unten, in der Welt, haben Sie längst ausgespielt.«
Pein wimmerte erregter:
»Was soll das heißen? Erst neulich habe ich im Züricher Pfauentheater in der führenden Rolle eines meiner Stücke gastiert und großen Beifall gefunden.«
Der Japaner lachte wie ein fremdartiger Wasservogel.
»Der Fushijama muß jetzt ganz in Blüte stehen«, wisperte er, zu Sylvester gewandt. »So sagen wir, wenn er beschneit ist. Aber auf den Seen zu seinen Füßen blinkt ewiger Sommer. Da gleiten die kleinen singenden Boote mit den Geishas und sie singen das süße Lied der Kirschenblüte.«
Es schlug ein Uhr.
Die letzten drei Runden wurden angesagt.
Als sie abrechneten, hatte nur Pein verloren: etwa fünfhundert Franken. Er suchte fluchend nach seinen unförmigen Überschuhen.
Sylvester verabschiedete sich rasch und schritt allein den Berg hinunter.
Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. In dem Haus an der Promenade, in dem Sybil als einziger Pensionär wohnte, glänzte noch Licht. Als er näher an das Haus kam, erkannte Sylvester, daß das Licht in Sybils Zimmer brannte.
Sie liest noch, dachte er.
Sybil aber lag wach im Bett und betrachtete Sylvesters Photographie, die er ihr geschenkt hatte. Es war eine Amateuraufnahme des Bulgaren und sie zeigte Sylvester in Gebirgstracht: braune Kniehosen, brauner Janker, an das Geländer einer Waldbrücke gelehnt.
VI
»Oh,« sagte Sybil, »die Ärzte sind noch weit zurück mit ihrer Wissenschaft. Statt zu versuchen, individuell den Kranken zu heilen, wollen sie immer generell und schematisch die Krankheit heilen. Eine Krankheit ist aber stets ein theoretischer Begriff und wie Geld nur von relativer Gültigkeit. Wirklich ist nur der Kranke. Sein Fleisch und Blut. Das von den Medizinern nicht weniger als von den Juristen und den Philologen mit Paragraphen dirigiert werden will.«
»Welch ein Unfug, die rein chirurgische Behandlung des Krebses!« sagte der kleine kluge Japaner. »Man kann konstitutionelle Krankheiten nicht lokal zur Heilung bringen.« »Meine Mutter«, sagte Sylvester leise, »litt an Brustkrebs. Sie ist wohl achtmal operiert worden. Ich war dazumal ein Kind. Ich konnte ihr nicht helfen. Sonst hätte ich den Ärzten die Messer aus der Hand geschlagen.«
»Wie leichtsinnig«, sagte Sybil, »sind die Ärzte hier oben mit ihren Verordnungen für Bettruhe. Eine winzige Temperaturerhöhung: gleich ins Bett. Das mag bei manchen Temperamenten seine Richtigkeit haben. Bei Phlegmatikern. Bei Melancholikern. Das Bett ist für den täglichen Tod, den Schlaf, da. Wie leicht birgt es den richtigen Tod.« »Mir hat immer der Tod Friedrichs des Großen als Beispiel eines Todes gegolten, wie er sein soll«, meinte Sylvester. »Er starb draußen im Freien, in der Sonne, unter grünen Bäumen im Lehnstuhl sitzend, den letzten Blick einer Schwalbe zugehaucht.«
»Einer hat einmal den ausgezeichneten Gedanken gehabt,« flüsterte der Bulgare auf seinem Hocker, »die Tuberkuloseheilung auf die Basis der sogenannten Liegekur zu stellen; seitdem müssen alle Lungenkranken in den Lungenkurorten der ganzen Welt den ganzen Tag, ohne sich zu rühren, und ohne größtmögliche individuelle Einschränkung, auf den Liegehallen liegen. Als ich das erstemal nach Ansicht der Ärzte am Rand des Grabes wandelte, ging ich nicht ins Bett, sondern aufs Pferd. Ich ritt jeden Morgen in der Frühe meine zwei, drei Stunden und ritt mich wieder ins Leben zurück. Nichts macht einen so guter Laune wie Reiten. Ich bin von Leysin aus auf den Montblanc geklettert, als man mir den zweiten Tod prophezeite. Trotz meiner rasenden Energie bin ich durch die jahrelange Liegekur erschlafft und ermüdet. Ich brauche dann und wann eine Reaktion, um noch weiter zu können: eine Montblancbesteigung, ein dampfendes Pferd, eine Pfirsichbowle, ein junges Mädchen, einen Poker.«
»Die Ärzte bedenken nicht,« sagte Sylvester verächtlich, »daß sie das, was sie auf der einen Seite gewinnen, auf der andern Seite wieder verlieren. Einer macht neun Jahre Kur und wird als geheilt entlassen. Seine Lunge ist faktisch geheilt. Gut. Wie aber steht es mit seinen übrigen leiblichen und seelischen Organen? Seine Nerven sind herunter. Seine Energie wie alter Kuchen zerbröselt. Er ist ein wachsweicher Klumpen angefressenen Fleisches. Zu keiner auch der geringsten Arbeit taugt er mehr. Er ist ethisch verlottert. Ein Parasit des Menschentums und zu nichts als seinem Tode noch verwendbar. Aber er stirbt, achtzig Jahre alt, an der › Dementia praecox‹.«
Der kleine Japaner wiegte den braunen Kokoskopf: »Wir haben oben einen Griechen im Sanatorium. Er liegt schon fünf Jahre im Bett. Griechen haben außer ihm das Sanatorium bisher nicht frequentiert. Wenn sie schon nach Davos kamen, wußten sie wohl von ihrem Landsmann nichts oder dachten nicht an ihn. Da keiner mit ihm griechisch sprach, hat er in den fünf Jahren das Griechische, seine Muttersprache, vergessen. Deutsch hat er aber inzwischen bis auf einige Brocken auch nicht gelernt. So kann er keine Sprache, weder Griechisch noch Deutsch, und schwebt sprachlos in Zeit und Raum. Ich wollte ihm schon Japanisch beibringen.«
Sybil sah nach der winzigen Schwarzwälderuhr über ihrem Bett.
»Ihr müßt gehen,« sagte sie freundlich, »ich erwarte den alten Ronken.«
Sie nahmen ihre Stöcke und gingen.
VII
Der Weißbart mit dem Rotkehlchenkopf beklopfte Sybil mit seinem eleganten weichen Hammer.
»Mein liebes gnädiges Fräulein,« zwitscherte er, »wir werden Sie röntgen müssen …«
»Tut das weh?« lächelte sie erschreckt, »ich habe Angst vor Schmerzen.«
»Es