Jagd«, krähte der naturwissenschaftliche Oberlehrer. »Die Jagd bereichert die Kenntnisse des Menschen von der Natur. Neulich hab ich eine Ricke geschossen, die hatte ein unausgetragenes Junges im Leib.«
»Fabelhaft!« sagte Herr Klunkenbul. »Da haben Sie also eine Dublette zur Strecke gebracht!«
»Es ist verboten, Ricken zu schießen«, sagte der Leutnant, leise verweisend.
»Ricke – was ist das?« fragte die hübsche Russin.
»Ein weibliches Reh«, sagte Sylvester. –
Er spricht mit mir, lächelte sie in sich hinein. –
»Ich angle lieber«, die Operettensängerin wiegte sich in ihren Hüften. Sie sang die drei Worte wie einen Coupletrefrain.
»Aber mit künstlichen Mücken«, sagte der Thorax. Der alte Herr Klunkenbul, Xylograph aus Braunschweig, ließ einige asthmatische Vokabeln aus seinem weißen Bart fallen; der stand wie eine beschneite Tanne im Hochwald seines Gesichts:
»Davos ist im Glanz der funkelnden Wintersonne die reine Märchenwelt.«
Man schien ihn nicht gehört zu haben und er wiederholte eigensinnig:
»… die reine Märchenwelt …«
»Der Monismus ist eine bedauerliche Zeiterscheinung«, sagte Sylvester und wandte sich ernst an Herrn Klunkenbul.
»Wie meinen Sie?« Herr Klunkenbuls Bart öffnete sich erstaunt.
Der naturwissenschaftliche Oberlehrer hatte nur das Wort Monismus vernommen.
»So glauben Sie nicht an Häckel und an seine wunderbaren Forschungsresultate?«
»Ich glaube immer noch lieber an Gott«, sagte Sylvester. Der naturwissenschaftliche Oberlehrer prustete überlegen. Herr Klunkenbul, der streng protestantisch gesinnt war, rief »Bravo!« und prostete Sylvester zu.
Die hübsche Russin Agasja warf wie bunte Glasperlen strahlende Augen auf Sylvester.
Er ist ein Dichter, dachte sie, ein deutscher Dichter – aber ein Dichter, und sah Sonne, Mond und Sterne ihn umwandeln.
Und während sie sich eine Mandarine schälte, sagte sie leise ein paar russische Verse:
Wenn der Dichter träumt, weinen die Mädchen, Und im Morgenrot liegt die Blüte ihres Herzens betaut.
IV
Nach dem Essen trat die Pneumo an Sylvester heran.
»Sie spielt. Haben Sie es gelesen? Der Zettel an den Affichen schillert in allen Regenbogenfarben.«
»Der bunte Zettel wird sie freuen«, sagte Sylvester. »Sie wird an ihren toten Papagei denken.«
»Aber finden Sie ihren Plan nicht wahnsinnig?«
»Sie fiebert in einem fort. Aber man kann ihr nicht raten. Man darf ihr nicht raten. Hören Sie.«
»Wer spielt denn den Mann?«
»Der Mystiker, Herr Pein«, sagte Sylvester.
»Und den Bruder?«
Sylvester zögerte.
»Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich ihn spiele. Aber bitte schweigen Sie noch davon. Auch der Bulgare möchte ihn spielen. Sogar der kleine Japaner.«
»Ich habe früher viel auf Dilettantenbühnen agiert,« sagte der Thorax nachdenklich, »als ich noch in deutschen Mittelstädten Pepsinwein verkaufte. Ob ich es nicht wieder einmal versuche?«
Die Pneumo streichelte seine Schulter.
»Kind, leg dich zu Bett und probiere lieber, ob du dein Exsudat wegkurierst. Was hast du heute gegen 7 Uhr gemessen?«
»37,9«, sagte der Thorax beschämt.
»Also«, die Pneumo nahm ihn zärtlich bei der Hand. »Komm, du mußt zu Bett.«
Sylvester verneigte sich leicht.
Er mußte noch ein paar Minuten an die frische Luft. Er spürte Kopfweh.
Er ging die Schiastraße entlang.
Der Leutnant streifte ihn. Er strebte in die Bar, zu Kolbinger.
»Sekt!« sagte er strahlend.
Sylvester fühlte Schritte hinter sich im weichen Schnee. Ein harter Ellenbogen stieß in seine rechte Hüfte. Er drehte den Kopf.
Ein Mädchen in blauer Sportjacke, mit einer blauen Mütze auf dem Kopf, sah ihn an.
»Kenne ich Sie?« fragte Sylvester.
»Nein«, sagte das Mädchen trotzig.
»Haben Sie mich mit Absicht Ihren Ellenbogen fühlen lassen?«
»Ja«, sagte das Mädchen und sah ihn wieder an.
»Was wollen Sie von mir?« Das Mädchen lachte leise:
»Sie!«
»Wie kommen Sie zu dieser Forderung an mich?«
»Ich habe das allergrößte Recht auf Sie.«
»Welches Recht?«
»Das Recht des Sterbenden.«
Sie traten unter eine Laterne.
Sylvester blickte in ihr hübsches, aber böses Gesicht. Ihr Atem durchschnitt die kalte Winterluft mit noch eisigerem Hauch. In ihrem Körper rasselte es wie ein Motor.
»Er schnurrt ab«, sagte das Mädchen. »Meine eine Lunge ist ganz weg. Und meine andere dreiviertel. Ich sterbe. Ich liege schon halb im Sarg. Nur mein Mund leuchtet noch im Leben. Ich habe solche Furcht vor der Einsamkeit. Küssen Sie mich!«
Eine Kokotte mit einem Greisenkopf, den üblen Hauch ihres verwesenden Mundes mit wildem Parfüm überduftend, hüpfte quer über die Promenade. Zwei junge und elegante Herrn liefen atemlos und hüstelnd hinter ihr her. Sylvester und das Mädchen schritten den Rütiweg langsam empor.
Der Mond hing runzlig wie eine amerikanische Dörrfrucht im Dunst der Nacht.
An einer Bank hielt das Mädchen an.
»Es sind zwölf unter Null«, sagte Sylvester.
»0,« lächelte das Mädchen, »das macht nichts. Mir ist so warm als wären wir im August.«
V
Der Bulgare hatte Sylvester, Leutnant Rätten, den Literaten Pein und den kleinen Japaner zu sich ins Sanatorium zum Tee gebeten.
Natürlich machte jemand den Vorschlag, zu pokern. Der Bulgare holte ein Spiel amerikanischer Karten mit dem Joker aus der Nachttischschublade.
»Warum haben Sie denn die Karten im Nachttisch?« fragte Sylvester.
»Wenn ich nachts aufwache und nicht wieder einschlafen kann, muß ich etwas Interessantes zum Lesen haben. Dann betrachte ich mir die Karten.«
Man spielte 1 Frank Satz, 10 Frank Grenze.
Keiner sprach ein Wort.
Der Japaner glänzte kupfern.
Den Bulgaren strengte schon das Mischen so an, daß er hustete.
Der Japaner gewann in lächerlich kurzer Zeit einige hundert Franken. Er wollte sich empfehlen und einen ärztlichen Besuch vorschützen.
»Dageblieben«,