Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.
Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen Mäste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte Segel über den Werften.
»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.
Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher das Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.
Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte wie auf eine verabredete Art an.
Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern.
Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.
»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian.
»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.«
»Ich dachte, du wärst aus England fort?«
»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele Freunde gehabt.«
Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst entfliehen.
»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause.
»Auf der Werft?«
»Ja.«
»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.«
Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.«
»Ganz derselbe.«
»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was haben.«
»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann.
»Macht nichts.«
Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian Singleton.
Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend.
»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!«
Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin beobachtete sie neidisch.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.«
»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach einer Weile.
»Vielleicht.«
»Dann gute Nacht!«
»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab.
Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme hervor.
»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!«
Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her.
Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte.
Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward