Straße blickte.
»Ist ein Patient gestorben?«, wunderte sich ihre Kollegin Janine Merck. »Ich hab gar nichts mitbekommen.«
»Hoffentlich kein überraschender Trauerfall in der Familie«, tat Wendy ihre Hoffnung kund. Obwohl sie ein gutes Verhältnis zur Familie Norden pflegte, konnte man ja nie wissen.
Wie jeden Morgen waren die beiden Assistentinnen von Dr. Daniel Norden senior und Danny Norden junior schon zeitig in der Praxis, um die Vorbereitungen für den Tag zu treffen. Dazu gehörte auch, Kaffee zu kochen. Der aromatische Duft zog durch die Räume, als Daniel Norden hereinkam.
»Guten Morgen, die Damen!«, begrüßte er seine Mitarbeiterinnen gut gelaunt, und insgeheim atmete Wendy auf. Er war ganz offensichtlich guter Dinge, sodass sie ihn ohne Scheu auf die für die warme Jahreszeit ungewöhnliche Kleiderwahl ansprach.
»Es ist tatsächlich eine Patientin gestorben. Allerdings war sie schon lange nicht mehr hier. Christine Javier war schon seit einiger Zeit schwer krank und in einem Pflegeheim untergebracht.« Nun huschte doch ein Schatten über sein Gesicht. »Tragischer Fall. Sie war erst knapp fünfzig.«
»Christine Javier?« An diesen Namen erinnerte sich Wendy genau. »Ist das nicht diese bekannte französische Schriftstellerin?« Vor Jahren hatte sie ihre Bücher verschlungen.
»Sie war Deutsche und lebte seit vielen Jahren in München«, klärte Daniel Norden seine Mitarbeiterin über ihren Irrtum auf. Inzwischen hatte er das viel zu warme Sacko an den Haken gehängt und nahm dankend den Kaffee, den seine Assistentin Janine ihm reichte. Sie selbst begnügte sich mit einer Tasse Tee, was Daniel mit Sorge registrierte. »Haben Sie immer noch diese Magenprobleme?«, erkundigte er sich mit gerunzelter Stirn.
Seit Wochen ging das schon so. Zunächst hatte Dr. Norden an eine Schwangerschaft gedacht, was sich glücklicherweise nicht bestätigt hatte. Janines Lebensumstände waren im Augenblick zu kompliziert, als dass sie sich aufrichtig über Nachwuchs gefreut hätte. Seit Monaten führte die ehemalige Krankenschwester eine Fernbeziehung mit ihrem Verlobten. Bei einem tragischen Autounfall in Deutschland war Lorenz Herweg jedoch schwer verletzt worden und erholte sich inzwischen auf der Insel der Hoffnung. Sooft es ging, besuchte seine mädchenhaft schmale Verlobte ihn, was ihrer ohnehin angeschlagenen Gesundheit nicht zuträglich war. Janine selbst schob die Übelkeit auf den ständigen privaten Stress. Doch langsam konnte und wollte Daniel diesem Argument keinen Glauben mehr schenken.
»Keine faulen Ausreden!«, warnte er sie, als sie schon wieder eine der üblichen Beschwichtigungen auf den Lippen hatte.
Betreten senkte Janine den Kopf.
»Na ja, viel besser ist es ehrlich gesagt nicht geworden.«
Am Tresen stehend nippte Daniel an seinem Kaffee. Eine unwillige Falte stand auf seiner Stirn, als er seine Assistentin besorgt musterte.
»Das dauert jetzt aber schon ganz schön lange«, erklärte er kritisch. »Für meinen Geschmack viel zu lange. Was halten Sie davon, wenn wir uns die Sache bei allernächster Gelegenheit mal genauer ansehen?«
Janine kaute auf der Unterlippe und dachte nach.
»Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Lorenz von dem Ergebnis nichts erfährt«, bat sie leise und sichtlich ängstlich.
»Das ist ganz allein Ihre Entscheidung«, lächelte Dr. Norden beruhigend, ehe er sich zu seinem Sohn Danny umdrehte, der eben die Praxis betreten hatte.
»Ah, da ist ja mein Mitstreiter!«, begrüßte er ihn lächelnd. Doch Dannys trübe Miene zeugte nicht eben von guter Laune. »Ist dir an diesem schönen Morgen schon eine Laus über die Leber gelaufen, oder warum ziehst du so ein Gesicht?« Sein kritischer Blick streifte die verbundene Hand. »Gibt es ein Problem?«
Danny, der nicht zugeben wollte, dass die Wunde an der Handfläche immer noch schmerzte und pulsierte, schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln ab.
»Du kennst doch mein Verhältnis zum frühen Morgen«, erfand er schnell eine fadenscheinige Ausrede.
»Und du kennst das Sprichwort: Der frühe Vogel fängt den Wurm«, konterte Dr. Norden schlagfertig.
Angeekelt verzog Danny den Mund.
»Danke, statt Würmern bevorzuge ich morgens Wendys hervorragenden Kaffee.«
»Es ist Janines hervorragender Kaffee«, korrigierte Wendy diesen Irrtum schnell. »Und nichts für ungut, Chef, aber zu Dannys heutiger Situation passt ›Morgenstund hat Gold im Mund‹ viel besser.« Mit spitzbübischer Miene griff sie nach der Patientenkarte, die ganz oben auf dem Stapel lag und reichte sie Danny. »Herr Gold kommt gleich. Er hat heute schon frühmorgens angerufen, weil er eine schlaflose Nacht hinter sich hat.«
»Das auch noch!«, stöhnte Danny auf und machte sich auf den Weg in sein Sprechzimmer, ehe weitere Hiobsbotschaften auf ihn einprasseln konnten.
Lächelnd sah Daniel seinem Sohn nach, wie er missmutig den Flur hinunterstapfte. Er konnte Danny verstehen. Patrick Gold war ein Hypochonder, wie er im Buche steht, und kam fast jede Woche mit einer neuen eingebildeten Krankheit in die Praxis. Doch selbst ein so anstrengender Patient war noch besser als eine Beerdigung am Vormittag, stellte Daniel insgeheim fest, bevor auch er sich in sein Zimmer zurückzog, um zu arbeiten, bis es Zeit zum Aufbruch wurde.
*
Auch wenn der Besuch von Patrick Gold wie erwartet verlief, brachte er für Danny doch wenigstens die erhoffte Ablenkung von seinen eigenen Schmerzen. Die verletzte rechte Hand in einen frischen Verband gewickelt, saß er am Schreibtisch und hörte geduldig den Erklärungen seines Patienten zu.
»Ich weiß ja, dass ich Senk-Spreiz-Füße habe. Und mein rechtes Bein ist fast zwei Zentimeter kürzer als das linke«, berichtete Herr Gold in dem ihm eigenen, immer ein wenig selbstmitleidigen Tonfall. »Das haben mehrere Orthopäden unabhängig voneinander festgestellt.« Mit entrüsteter Miene beugte er sich vor und winkte Danny zu sich. »Alle sagten sie, dass das harmlos ist«, raunte er ihm verschwörerisch zu. »Aber gestern Abend ist etwas geschehen, was sie Lügen straft.«
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Danny mit höflichem Interesse, das seinen Patienten anspornte.
»Ich bin also mit meinen angeblich harmlosen Senk-Spreiz-Füßen ins Bad gegangen. Und da ist es plötzlich passiert!« Patricks babyblaue Augen wurden kreisrund. »Mein Fuß hat sich angefühlt, als ob ich in einen Igel getreten wäre. Es war ein entsetzlicher Schmerz!«
»Ganz bestimmt laufen in Ihrem Bad keine Igel herum«, bemerkte Danny immer noch lächelnd.
»Natürlich nicht.« Energisch schüttelte Patrick Gold den Kopf. »Ich habe meinen Fuß sofort gründlich untersucht. Stellen Sie sich vor: Da war nichts. Kein Splitter, keine Wunde, nur eine Beule.«
»Interessant. Darf ich mir die Sache mal ansehen?«, fragte Danny und wollte sich mit den Händen auf der Lehne abstützen, um aufzustehen, als ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand fuhr. Über Patricks Bericht hatte er seine eigene Verletzung ganz vergessen. Er unterdrückte ein Stöhnen und sank auf den Stuhl zurück. Das war auch gut so, denn sein Patient war noch nicht fertig mit seinem Bericht.
»Ich hab dann sofort meinen Laptop geholt und mal nachgesehen, was das sein kann«, fuhr der junge Mann Ende zwanzig mit gewichtiger Miene fort. »Also habe ich ›Schwellung Fußsohle‹ eingegeben und bin auf einen Eintrag gestoßen, der alle möglichen Ursachen genannt hat, angefangen von Entzündungen der Achilles-Sehne oder der Schleimbeutel über einen Ermüdungsbruch des Fersenbeins bis hin zu Knochenzysten und Tumoren«, zählte der besorgte Mann ein Schreckgespenst nach dem anderen auf. »Sie können sich vorstellen, wie sehr ich erschrocken bin.«
»Wenn ich mir die Sache mal ansehen dürfte, könnte ich Ihnen …«, machte Danny einen weiteren Versuch, seinen Patienten ins Behandlungszimmer zu komplimentieren.
Doch diesmal hörte Patrick Gold ihn gar nicht. Fasziniert von seinen Rechercheergebnissen fuhr er fort.
»Eine Schleimbeutelentzündung habe ich sofort ausgeschlossen.« Allein