»Haben Sie auch gründlich gesucht?« stellt er die Gegenfrage.
»Doktor Müller hat sich an der Suche beteiligt, auch die Oberschwester und – ich. Wir haben es nicht finden können.«
»Merkwürdig, allerdings sehr merkwürdig.« Doktor Romberg denkt ein paar Minuten scharf nach und meint dann: »Wer sollte das Bild verlegt haben? Ein kleiner Kreis hat es doch nur in der Hand gehabt.« Dann winkt er ab. »Übrigens ist es gar nicht so wichtig, obgleich es mir ein Rätsel ist.«
»Es ist aber sehr wichtig«, behauptet Doktor Sanders ernst. In ihren bernsteinfarbenen Augen tanzen goldene Pünktchen, und ihre Wimpern flattern.
Jetzt weiß er schon, daß sie sehr erregt ist. Er packt sie an den Schultern und zwingt sie, ihn anzusehen. »Doktor Sanders«, sagt er und ihre Erregung überträgt sich allmählich auch auf ihn. »Verschweigen Sie mir etwas?«
Sie antwortet nicht, und hastig spricht er weiter: »Weshalb interessieren Sie sich überhaupt für das Röntgenbild des toten Stücker?«
Sybillas Zunge fährt rasch über ih-
re trockenen Lippen. »Weil – weil – ach –«
Sie befreit sich von seinem Griff und läßt sich in den Sessel fallen.
Jetzt ist Doktor Romberg stutzig geworden. Er steht rasch vor ihr, neigt sich zu ihr hinab und legt seine Hände auf die Lehne des Sessels. »Was wird hinter meinem Rücken gespielt?«
»Das Röntgenbild – ist – verschwunden«, kommt es stockend aus ihrem Mund.
»Mein Gott«, sagt er ärgerlich und schlägt mit der Linken auf die Sessellehne. »Das haben Sie mir schon ein paarmal gesagt. Weshalb sind Sie so außer sich? Keine Ausrede, bitte.« Das klingt schroff und macht sie noch verstörter als sie schon ist. »Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Professor Becker ist von der Reise zurück.«
Als sei es das Stichwort und Romberg müßte sich auf die Bühne begeben, erscheint Schwester Annegret in der Tür und ruft Romberg zu: »Herr Doktor, Sie werden von dem Professor verlangt.« Romberg findet den Professor nicht allein vor. Doktor Freytag ist bei ihm. Der Professor ist eine große, hagere Erscheinung. So weiß wie sein Kittel ist auch sein Gesicht. Die hohe Stirn läuft in einer Glatze aus. Das Weiß wird nur durch die dunklen Augen und den kleinen schwarzen Lippenbart unterbrochen. Auf den ersten Blick macht er einen etwas unheimlichen Eindruck. Aber wer ihn näher kennt, weiß, wie tüchtig er ist, wie sehr er in seinem Beruf aufgeht und mit welch großem Einfühlungsvermögen er seine Patienten behandelt. Jeder hat das Gefühl, der Professor sei allein für ihn da.
Romberg verehrt den Mann, von dem er enorm viel gelernt hat und dessen Vorbild er nachstrebt.
Ein kurzer Seitenblick streift Freytag. Der räkelt sich in seinem Sessel, daß es Romberg heiß hochkommt. Manieren hat der Junge! Unverständlich, wie sich der Professor so für diesen Schwächling einsetzen kann.
Ohne Freytag zu beachten, reicht er dem Professor die Hand. »Es freut mich, daß Sie wieder zurück sind, Herr Professor. Hatten Sie eine gute Reise? Und haben Sie interessante Neuigkeiten mitgebracht?«
Auch der Professor freut sich, seinen Oberarzt wiederzusehen. »Hat etwas länger gedauert, als ich vermutete. Bitte –«. Er macht eine einladende Handbewegung zu dem freien Sessel hin und nimmt selbst Platz.
Romberg ist sehr verwundert. Noch nie war Freytag anwesend, wenn der Professor ihm nach einem Kongreß, an dem er teilgenommen hat, berichtete.
In Freytag kocht es, da Romberg ihn wie Luft behandelt. Er wird ihm diese Hochnäsigkeit eintränken – nimmt er sich vor. Nach außen hin ist er der fröhliche, unbekümmerte Arzt, den nichts so leicht erschüttern kann.
Professor Becker beginnt die Unterredung – und Freytag sitzt mit undurchdringlicher Miene, innerlich frohlockend, dabei.
*
Doktor Müller verfolgt das Bild auf Schritt und Tritt: Oberschwester Magda – und dieser Windhund, der Freytag, wie er sie auf die Wange küßt.
Er liebt die Oberschwester schon lange. Nur seine angeborene Schüchternheit hat ihn daran gehindert, sich ihr zu nähern. Wie kann sich ein so
feinempfindender Mensch wie Magda in die Hände dieses jungen Arztes geben?
Er verrichtet an diesem Tag seine Arbeit wie im Traum. Ein paarmal gibt er Doktor Sanders verkehrte Antworten. erschrickt und verbessert sich rasch.
Sybilla Sanders fühlt, daß auf der Station etwas vorgeht, das alle durcheinandergebracht hat. Am meisten scheint ihr der geliebte Mann bedroht: Wolfram Romberg.
Aber auch Müller hat sich verändert. Er läuft mit einer verschlossenen Miene einher, während er für gewöhnlich gern scherzt, überhaupt eine gewinnende, offene Art hat.
Der einzige, den das alles nicht zu berühren scheint, ist Doktor Freytag. Sie kann das alles nicht verstehen.
Doktor Müller indessen ist unschlüssig wie noch nie zuvor. Soll er einmal mit Magda sprechen? Soll er ihr die Augen öffnen, daß Freytag, der Frauenheld, nur mit ihr spielt? Warum aber? grübelt er. Er kann doch keinen anderen Grund haben, als daß ihm Magda gefällt.
Er empfindet bei diesem Gedanken heißen Schmerz. Er hat von einer eigenen Praxis geträumt und von Magda als seiner Frau. Er kennt ihre innere Sauberkeit, ihre Gewissenhaftigkeit und steht einfach vor einem Rätsel, wie es Freytag gelingen konnte, diese herbe Frau einzuwickeln.
Soll er sie warnen? Er seufzt. Wann hätte sich ein Mensch warnen lassen, wenn er liebt. Und er ist davon überzeugt, daß Magda Freytag liebt. Nur glaubt er nicht an die Echtheit der Gefühle des jungen Arztes. Und der Alters-unterschied –?
Doktor Müller preßt die Fäuste gegen die Augen. Ihn schmerzt schon der Kopf vom vielen Nachdenken. Dazu kommt noch das häßliche, urplötzlich aufgekommene Gerücht, Romberg hätte bei Stückers Operation nicht gewissenhaft genug gehandelt.
Das Röntgenbild! Abermals geht er in das Zimmer, wo die Röntgenaufnahmen verwahrt werden, und sucht und sucht. Leider ohne Erfolg.
*
Hochaufgerichtet, blaß bis in die Lippen, steht Doktor Romberg vor seinem Chef. Ihm ist, als habe er einen Schlag über den Kopf bekommen. Förmlich benommen ist er von dem Gehörten.
Dazu das spöttische Lächeln Doktor Freytags.
»Was menschenmöglich war, habe ich getan, Herr Professor«, verteidigt er sich, obgleich er es unter seiner Würde hält. »Zwei Operationen, zwei Transfusionen. Einmal hat Doktor Sanders assistiert, einmal Doktor Müller.«
Er schöpft tief Atem. Der Ekel würgt ihn, und Freytag denkt: Jetzt verpetzt er mich, jetzt sagt er, daß ich betrunken zum Dienst erschienen bin. Aber Romberg denkt gar nicht daran. Für ihn ist diese Sache abgetan.
»Wie erklären Sie sich aber das Verschwinden des Röntgenbildes?«
»Keine Ahnung, Herr Professor.« Rombergs Stimme klingt rauh und unnatürlich, was der Professor für Unsicherheit hält. »Es haben ja noch mehr Zutritt zu dem Zimmer – nicht nur ich.«
»Verzeihen Sie, Romberg.« Der Professor tritt auf seinen Oberarzt zu, der so überaus tüchtig ist. »Ich will Sie keinesfalls verdächtigen. Was hätten Sie auch für einen Grund. Sie müssen verstehen, ich muß der Sache nachge-
hen –«
»Glauben Sie etwa auch, ich habe schuld am Todes des Industriellen?«
»Keinesfalls«, kommt ohne Zögern die Antwort, und Rombergs Brust hebt sich in einem befreienden Atemzug. Gott sei Dank! Wenn ihm nur der Professor glaubt. Im gleichen Augenblick begegnet er den blauen Augen Freytags, die merkwürdig verschleiert sind. Was er daraus liest, ist Haß, purer Haß, und er erschrickt darüber.
Ein Gedanke setzt sich in ihm fest, der ihn fast aus dem Gleichgewicht wirft. Nach außen hin erscheint er