Leontine nahm ihre Handarbeit hastig wieder auf, die sie hatte ruhen lassen.
»Ich muß nun gehen, Leontine. Das Kind kann aber nicht sich selbst überlassen bleiben«, richtete Beate Eckhardt das Wort an Leontine. Dabei fühlte sie das heftige Zucken von Leonores kleiner Hand.
»Hoffentlich kommt Nikolaus bald zurück«, war die gelassene Antwort.
»Und was soll das Kind bis dahin beginnen?«
Gleichgültig zog Leontine die mageren Schultern hoch. »Vielleicht schläft solch ein kleines Mädchen noch viel. Ich weiß nicht mehr, wie man kleine Kinder behandelt; es ist schon sehr lange her, daß ich solche Sorgen hatte.«
Beate Eckhardts schlanke Hände ballten und öffneten sich. Wenn sie diese Frau doch einmal aus ihrer Gleichgültigkeit herausreißen könnte!
»So willst du dein Enkelkind den Hausangestellten überlassen?« fragte sie mit mühsam unterdrückter Erregung.
»Ich verstehe dich nicht, du machst dasselbe Aufsehen wie Nikolaus. Wenn du doch endlich einsehen wolltest, daß ich mit diesem Kind nichts zu schaffen haben will.«
»Mit deinem Enkelkind?« Beates Augen weiteten sich vor Entsetzen. Es fror sie bei der Herzenskälte dieser Frau. Wie sehr mußte erst der Bruder neben ihr gelitten haben!
»Du solltest dich schämen, wirklich schämen!« stieß sie mit zornig gerötetem Gesicht hervor. »Am Ende neidest du dem Kind gar das Erbe. Sobald Nikolaus zurück ist, werde ich offen mit ihm sprechen. Das Kind ist in deiner Nähe in großer Gefahr, hörst du? In großer Gefahr, denn ein Mensch ohne Herz schreckt sogar vor einem Verbrechen nicht zurück.«
Jeder Tropfen Blut schien aus Leontine Eckhardts Gesicht gewichen zu sein. Nur die Augen flammten voll Zorn.
»Das Kind bleibt hier, wie Nikolaus es bestimmt hat!« sagte sie hart und kalt. »Deine Anschuldigung weise ich entschieden zurück. Damit du aber im Bilde bist: Ich werde um das Erbe kämpfen, denn ich allein habe ein Recht darauf. Du kennst doch die Klausel? Oder hast du sie schon wieder vergessen? Ihr Inhalt ist schon so gut wie eingetreten – und das Kind dort trägt das leichtfertige Blut seiner Mutter in den Adern. Weiter habe ich dir nichts mehr zu sagen. Es wäre aber besser für uns beide, wenn du mein Haus von heute ab meiden wolltest.«
Beate blickte zornig hinter der hageren, vornübergeneigten Frauengestalt her, sah, wie sie achtlos an dem verängstigten Kind vorüberrauschte und mit hartem Druck die Tür hinter sich ins Schloß warf.
»Mein Gott!« flüsterte Beate und sank auf den Stuhl nieder, der neben Leontines Arbeitsplatz stand.
Unter Tränen lächelnd beugte sie sich zu der Kleinen.
»Ich nehme dich mit mir, Lorchen. Hier kannst du nicht bleiben Nikolaus soll später entscheiden.«
Da lächelte das Kind unbeschreiblich zu der tiefbewegten Frau empor. Vertraulich schob es seine zierliche Hand in die der Frau und preßte sie fest an sein heißes Gesicht.
»Mit dir gehe ich gern, Tante, du bist so gut!« piepste sie.
Mit einem starren Gesicht, das Kind nicht von sich lassend, verließ Beate Eckhardt das Haus ihres Bruders, in dem die Schwägerin jetzt herrschte, die ihr das Wiederkommen untersagt hatte.
*
Detlef Sprenger irrte von neuem stundenlang durch dunkle, menschenleere Straßen, um die wahnsinnige Erregung in sich verebben zu lassen, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen.
Er hatte den Hut vom Kopf gerissen und ließ den kühlen Nachtwind um die brennende Stirn wehen.
Nach und nach fielen ihm die Ereignisse der letzten Stunden wieder ein. Mein Gott! Er hatte Regina einfach gehen lassen! Was für eine Entschuldigung sollte er für sein unverantwortliches Handeln vorbringen?
Er warf sich in das nächste Taxi und ließ sich zu ihrem Haus fahren.
Die Fensterreihe, die zu Regina Reuters gemütlichem Heim gehörte, war finster. Lange starrte er unschlüssig empor.
Aber dann hatte er doch den Finger auf den Klingelknopf gedrückt und wartete, den Blick in die Höhe gerichtet.
Er hatte das bestimmt Gefühl, daß Regina zu Hause war. –
Regina erschrak. Hatte es nicht geklingelt? Sie sprang in die Höhe, trat hinter die Gardine und versuchte, das Dunkel zu durch dringen. Dort unten stand Detlef Sprenger und schaute unverwandt zu ihr empor. Trieb die Reue ihn zu ihr?
Sie fühlte ihr Herz stürmisch schlagen und hörte die drängende Stimme im eigenen Innern: Öffne ihm! Aber dann wandte sie sich mit einem bitteren Auflachen um.
Nein! Zwecklos war es, sich neuen Hoffnungen hinzugeben. Zwecklos, ihn anzuhören!
»Nein! Schluß! Aus!« Mit seltsam harter Stimme sagte sie es vor sich hin. »Lieber ein jähes, schmerzliches Ende, als weiter in diesem ungesunden Zustand verbleiben!« –
Regina wollte nichts mehr mit ihm zu schaffen haben.
*
Elend und zermürbt kehrte Nikolaus Eckhardt von der Fahrt zurück. Er hatte die Frau seines Bruders nicht sehen dürfen, und nun schleppte er zu aller Trauer um den Bruder auch noch die Sorge um die unbekannte Frau mit sich herum.
Petra Eckhardt schwebte in Lebensgefahr; niemand dürfe zu ihr, hatte der leitende Arzt ihm und Dr. Hartmut gesagt. Da hatten sie gehen müssen, ohne die Frau gesehen zu haben.
Müde, mit eingezogenen Schultern, legte er den Weg von der Garage zum Haus zurück, und schon wieder drängten neue Gedanken auf ihn ein.
Wie würde es dem Kind unterdessen ergangen sein? Sein Auge glitt an der Hausfront entlang. Im Zimmer seiner Mutter brannte noch Licht. Hinter den Fenstern seiner Wohnräume schlief das Kind sicher schon.
Eilig legte er in der Halle den Mantel ab und suchte unverzüglich sein Zimmer auf. Behutsam öffnete und schloß er die Tür. Im Dunkeln suchte er die kleine Nachtlampe. Aber der matte Schein fiel auf ein leeres Lager. Mit entsetzten Augen starrte er auf die unberührten Kissen.
Wo war das Kind? Hatte er nicht den Auftrag gegeben, es hierher zu betten?
Mutter! War sein nächster Gedanke. Er stürmte davon, in das Zimmer seiner Mutter. Nach kurzem Anklopfen trat er ein.
Leontine fuhr aus dem Sessel am Tisch empor, als sie den Sohn blaß, mit keuchendem Atem vor sich sah.
»Wo ist das Kind?« stieß er hervor.
»Das Kind?« Sie hob gleichgültig die Schultern, aber in ihre farblosen Wangen stieg die Röte der Verlegenheit. »Es wird wohl schlafen. Sicherlich liegt es in deinem Zimmer, wie du angeordnet hast.«
»Dort ist es nicht!«
»Beate war hier… Vielleicht – «
Nikolaus strich sich über Stirn und Augen und seufzte tief auf.
»Natürlich, Tante Beate!« sagte er tonlos und wandte sich grußlos zum Gehen. Der Schweiß stand in dicken Perlen auf seiner Stirn.
Er ging ans Telefon und rief sie an. Sie würde ihm gewiß nicht böse sein, daß er sie jetzt noch störte.
Beate Eckhardts dunkle, warme Stimme schlug an sein Ohr.
»Hier Nikolaus – «
»Endlich, mein Junge!« hörte er die Tante lebhaft sprechen. »Gut, daß du anrufst! Nun weiß ich wenigstens, daß du gesund heimgekehrt bist. Lorchen schläft, wir haben schon dicke Freundschaft geschlossen – «
Nikolaus sank wie erlöst auf den Stuhl neben dem Apparat.
»Gottlob, Tante Beate! Nun glaube ich, daß ich heute nacht wieder einmal besser schlafen kann. Ich danke dir, daß du dich des Kindes angenommen hast. Morgen früh komme ich zu dir. Dann beraten wir gemeinsam… Oder willst du hierher kommen?«
Sekundenlanges Zögern,