Daphne Niko

DAS URTEIL


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hatte ihren Zorn verloren. Doch dieses Erwachen war so vergänglich wie zarte Frühlingsblumen. Alles Leben, jung und alt, würde bald schon im eisernen Griff der vorrückenden Armee vergehen.

      Ohne Überraschung betrachtete sie den Ansturm. Sie hatte gewusst, dass sie kommen würden. Zerstörung folgte dem moralischen Zerfall so sicher, wie Geier auf verrottendes Fleisch herabsanken. Selbst als Tochter eines Königs besaß sie nicht die Macht, dem Einhalt zu gebieten. Ihr Wille, so unerschütterlich er auch schien, war ein Sandkorn im Angesicht göttlichen Zorns.

      Sie senkte den Kopf und sah gedankenverloren zu den Quadersteinen unter ihren Füßen. Wie perfekt sie behauen waren. Ihr Vater hatte auf diese Präzision bestanden. Er schuf seine Festung, wie er auch sein Königreich schuf, und sein Königreich wie seinen Charakter: eindrucksvoll, beständig, unerschütterlich. Mit ihrer Sandale folgte sie einem feinen Riss. Makel wie dieser konnten, wenn sie vernachlässigt wurden, einen Stein bersten lassen. Auf diese Weise stürzten Mauern ein und ebneten Feinden den Weg, um ungehindert einzudringen.

      Mit einem Seufzen sah sie auf und rief sich in Erinnerung, wer sie war: Basemat, geliebte Tochter König Salomons und jener Gemahlin, die er wie keine andere vergötterte, jener Gemahlin, die ihn außerordentlich liebte und ihn verdarb und letztlich zerstörte. Trotz all seiner Fehler war er der mächtigste König der Geschichte, der Eine, dem der Herr sein Vertrauen schenkte, der Eine, der die Welt dazu brachte, sich vor Israel zu verneigen. Der Nachkomme eines solchen Mannes zu sein, sein Andenken zu ehren und nach seinem Wesen zu handeln, war eine Verantwortung, die sie ernst nahm.

      »Mutter?«

      Basemat sah ihre zwölfjährige Tochter an, eine honighäutige, wildäugige Schönheit mit seidig schwarzem Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Das Mädchen trug eine schlichte, graue Baumwolltunika, die sich für ihren königlichen Stand nicht schickte. Es schien, als könne auch sie spüren, dass der Untergang näher rückte. Sie kleidete sich wie das gemeine Volk, denn bald würde sie in seiner Mitte stehen und auf einem Schlachtfeld kämpfen müssen, auf dem es keine Titel oder Privilegien oder Goldreserven gab.

      »Ich suchte den gesamten Palast nach Euch ab. Die Männer haben sich im Hof versammelt und satteln ihre Pferde. Die Menschen sind beunruhigt.« Sie blickte an der Schulter ihrer Mutter vorbei und zum schmalen Fenster hinaus. »Was ist da draußen?«

      Basemat atmete tief ein. Es gab keinen Grund, die Wahrheit vor ihr zu verheimlichen. Es lag im Wesen der Frauen Judas, schonungslos ehrlich zu sein, ganz gleich, was es kostete. »Was wir befürchteten, ist eingetreten, Ana. Der ägyptische Feind steht vor uns.« Sie nickte in Richtung des Fensters. »Sie werden uns mit der Abenddämmerung erreichen. Wir müssen bereit sein.«

      »Sind wir deshalb aus Schechem hierher geflohen?«

      »Megiddo ist unsere Festung, Mädchen. Sie wird uns schützen. Mein Vater baute sie wie seinen Palast in Jerusalem. Sie ist nahezu uneinnehmbar.« Sie glaubte daran, und das spendete ihr Trost. »Jetzt spute dich. Wir müssen die anderen führen. Versammle die Frauen und Kinder im Hof.«

      Ana zögerte nicht. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief die Wendeltreppe des Turms hinunter. Ihre schwarzen Locken wogten hinter ihr her wie die Mähne eines trabenden Vollblüters.

      Basemat verweilte einen Augenblick länger. Sie griff in ihr weißes Leinenkleid und zog die Goldkette heraus, die auf ihrem Busen lag. Sie ließ das Objekt, das von ihr herabhing, in ihrer Hand ruhen und spürte sein Gewicht. Der Ring, aus Eisen geschmiedet und von einer Scheibe gekrönt, in die vier Edelsteine eingebettet waren, war ein Gegenstand von großer Bedeutung, eine physische Manifestation höchster Macht.

      Er war ihr teuerster Besitz, der ihr von ihrem Vater nur wenige Tage vor seinem Tod überreicht worden war. Salomon hätte ihn seinem Sohn und Erben hinterlassen können, dem regierenden König Rehabeam, doch er entschied sich dagegen.

      »Dies muss jemandem überlassen werden, der reinen Herzens und Geistes ist«, hatte der alternde, ausgezehrte König gesagt, als er seine knochigen Finger in ihre Handfläche legte und ihr das mystische Symbol seiner Herrschaft übergab. »Ihr, und nur Ihr, seid dessen würdig, meine Tochter. Alle anderen sind vor dem Herrn gescheitert.«

      Als sie protestierte und ihm sagte, dass der Ring ihn in die nächste Welt begleiten sollte, zeigte er ein schwaches Lächeln. »Es gibt vieles, das ich Euch nicht sagen kann. Ihr müsst Eurem alten Vater vertrauen. Nehmt diesen Ring und verwahrt ihn an Eurem Herzen. Er soll Euch daran erinnern, dass das Blut des Hauses David in Euren Adern fließt. Kniet vor niemandem nieder, auch dann nicht, wenn der Wind sich dreht.«

      Basemat sah aus dem Fenster zur näherrückenden Kolonne aus Männern, deren Kriegsschreie im Ruach Qadim hingen. Salomons Worte erschienen jetzt, etwa fünf Jahre nach seinem Tod, prophetisch. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. In mancherlei Hinsicht hatte auch sie das gewusst.

      Sie hielt den Ring umklammert und gab ihrem Vater ein stummes Versprechen: Sie werden nicht siegen.

      Sie küsste das Schmuckstück, als stecke es noch immer an seinem Finger, und schob es unter ihr Kleid zurück. Sie zog die Nadeln am weißen Florschleier fest, der ihren Hinterkopf bedeckte und ihr langes, haselnussfarbenes Haar verhüllte, das über ihren Rücken hinab floss. Sie legte eine Hand auf ihren Unterleib, um das nagende Gefühl zu beruhigen. Die Gelassenheit, die ihr achtunddreißig Jahre ihres Lebens zweifelsfrei eigen gewesen war, verblasste gleich der vom Alter ausradierten Herrlichkeit der Jugend.

      »Gott sei mit uns«, flüsterte sie und machte sich auf den Weg zum Hof.

      Ebenerdig bot der Palast eine chaotische Szenerie. Jenseits der Doppelbögen, die die große Terrasse bildeten – in glücklicheren Zeiten ein Ort vornehmer Ruhe – versammelten sich die Männer, um mit Rüstungen ausgestattet zu werden. Armeeoffiziere standen auf Steinaltären und riefen: »Kämpft für das Königreich! Kämpft für das Recht, in diesen Ländereien zu leben! Kämpft im Namen des Herrn!«

      Basemats Ehemann, Ahimaaz, war einer der Heerführer. Zu Pferde instruierte er seine Einheit, die sich bereit machte, aus den Palasttoren zu reiten. Zu Friedenszeiten war Ahimaaz von König Salomon als Statthalter von Naftali bestellt; in Kriegszeiten war er ein Feldherr. Vor diesem Tag hatte sie ihn diese Rolle nicht annehmen sehen und sie verspürte einen Stich der Angst, da es ihr so neu war. Sie zwang die Empfindung fort, denn sie war unnütz. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich vor dem Unbekannten zu fürchten, sondern vielmehr der, es geradewegs anzugreifen.

      Basemat glaubte an ihren Gatten, denn er hatte das Herz eines heiligen Mannes und den Instinkt eines Kriegers. In seiner Jugend war Ahimaaz ein Priester gewesen, von seinem Vater, dem Hohepriester von Salomons Reich, in den Bräuchen des Herrn unterrichtet. Dennoch wusste er auch, wie man ein Schwert schwang, und er war aufgerufen worden, eine Rebellion gegen seinen König niederzuschlagen. Salomon belohnte Ahimaaz' Sieg mit einer wichtigen Statthalterschaft und dem wertvollsten Preis von allen: der Vermählung mit seiner erstgeborenen Tochter.

      Sie fing Ahimaaz' Blick und hielt eine Hand in die Höhe. Er erwiderte die Geste und einen langen Augenblick verharrten die beiden einander zugewandt und dachten über ihr Schicksal nach. Nichts Gutes erwartete sie, und beide wussten das. Der Mann, der Jagd auf sie machte, Pharao Scheschonq I., war ein schrecklicher Feind. Was er haben wollte, nahm er sich, ohne Warnung, ohne Gnade; das hatte er während seiner Regierungszeit wiederholt bewiesen.

      Die Kunde von seinem Feldzug gegen Kusch hatte Jerusalem vor Jahren erreicht. Seine Männer hatten die Grenzstädte mitten in der Nacht überfallen, Dörfer niedergebrannt und Menschen abgeschlachtet, während sie sich Napata näherten, alles im Namen der Kontrolle über den Goldhandel, der dort florierte, und um die Grenzen Oberägyptens bis zum vierten Katarakt des Nils auszudehnen.

      Vielleicht war die kuschitische Invasion eine Übung für Scheschonqs Eroberung der Ländereien, die er letzten Endes ins Auge gefasst hatte: Israel und Juda. Zu König Salomons Lebzeiten hatte der in Libyen geborene Pharao Ägyptens nicht den Versuch gewagt, in die uneinnehmbare Festung von Jerusalem einzudringen. Doch während der letzten Lebensjahre des Königs war deutlich geworden, dass der Staat ausblutete, politisch und spirituell. Ägypten hatte dieses Blut gerochen und seine