Daphne Niko

DAS URTEIL


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ägyptische Armee in nördlicher Richtung über die Meeresstraße ritt und dabei alles und jeden vernichtete, der zwischen ihnen und dem Sieg stand. Die Nachricht kündete von sechzigtausend Mann und fünftausend Streitwagen, von denen manche dem Seeweg nach Norden folgten und andere sich nach Osten in Richtung der Heiligen Stadt wandten. Kanaan war eingenommen worden, berichteten die Boten. Viele Städte waren gefallen. Häuser waren niedergebrannt worden, ihre Bewohner aufgespießt. Blut hatte die felsige Erde im Süden verfärbt. Die Opferzahl zu nennen war unmöglich, aber die bloße Vorstellung davon ließ Basemat vor Furcht zittern.

      Ahimaaz zog seinen Helm über sein schulterlanges, silberdurchwobenes Ebenholzhaar und entzündete mit einem Zuruf den Funken des Angriffs in seinen Männern. Mit ihren Speeren und ihrem Mut bewaffnet folgten die Reiter ihrem Feldherrn durch die Palasttore und ergossen sich über den Siedlungshügel und das Tal.

      Basemat sprach ein stummes Gebet für ihre Sicherheit. Ahimaaz führte keine herkömmliche Armee an, sondern vielmehr eine Widerstandsbewegung. Die Männer kamen aus allen Winkeln Israels und Judas geritten und organisierten sich in den Felsen von Gilboa, südöstlich von Megiddo. Für die Ägypter war die Wildnis Gilboas feindselig und das machte sie für die Widerstandskämpfer ideal, die die Launen der Berge kannten. Ihre Aufgabe bestand darin, den Feind zu schwächen, indem sie Informationen sammelten und Blitzangriffe ausführten, wenn die Ägypter unachtsam waren. Angesichts der riesigen Armee Scheschonqs war dies die beste und vielleicht einzige Hoffnung, die sie besaßen.

      Basemat drehte sich zur Terrasse um und betrachtete die Gesichter der Frauen und Kinder, die sich versammelt hatten und auf Anweisungen warteten. Die Kleinen weinten. Ihre dicken, lohfarbenen Finger klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter. Säuglinge schrien verzweifelt und veranlassten ihre Mütter, ihnen die Brüste in die Münder zu schieben: Der größte Trost, den sie zu bieten hatten. Sogar die älteren Frauen, sonst gleichmütig angesichts der Gefahr, waren rastlos vor Furcht. Ein junges Mädchen musste von ihren Verwandten gestützt werden, die ihr abwechselnd übers Haar und die tränennassen Wangen strichen. Eine andere kniete neben einer der Säulen und übergab sich, spie die Dämonen aus, die sie quälten.

      Basemat richtete ihren Blick auf die alte Witwe Hannah. Unter den Schatten ihres kohlegrauen Schleiers war ihr Gesicht, wenngleich von Furchen des Alters und Prüfungen gezeichnet, so sanft und friedlich wie das einer Jungfrau. Während die anderen um sie herumschwirrten wie Bienen in einer Honigwabe, stand Hannah starr wie eine Säule da. Ihr Blick war zu Boden gerichtet und ihre Handflächen zum Himmel hin geöffnet. Ihre Lippen bewegten sich kaum merklich, während sie ein Gebet sprach.

      Basemat konnte das Flehen der Frau nicht hören, aber sie spürte seine Herrlichkeit. Sie war sich sicher, dass Hannahs Bittruf himmlischer Harmonie galt – ein Vogelgesang ohne Erwartung oder bewusstes Bestreben. Sie beneidete sie um ihren Frieden.

      Basemat suchte in der Menge nach ihrer Tochter. Ana unterwies eine Gruppe Mädchen ihres Alters in der Kunst, ein Chepesch zu führen, ein kanaanäisches Sichelschwert. Sie stand hinter einem der Mädchen und führte seine Hand mit ihrer eigenen, um ihm zu zeigen, wie man parierte. Es war ein Manöver, das ihr Vater ihr auf ihr eigenes Drängen hin beigebracht hatte, als sie elf Jahre alt war. Es war ihr Ritual, hatte Ana gesagt, um eine Frau zu werden.

      Mit beinahe dreizehn war Basemats einzige Tochter nun erwachsener, als es ihrem Alter entsprach, ein Abbild ihres königlichen Erbes und der Linie aus Anführern, in welche sie hineingeboren war. Sie beobachtete, wie Ana ihren jungen Freundinnen eine Abfolge mit dem Sichelschwert vorführte. Sie beherrschte die Klinge, als wäre sie eine Verlängerung ihres Arms, und wich einem vorgetäuschten Feind aus. Sie drehte sich auf den Fersen und schwang zum Angriff herum. Ihr unbedecktes Haar peitschte durch die Luft wie lange, schwarze Seidenbänder.

      Eines Tages, dachte Basemat, wird sie einen König heiraten. Es war mehr Vorahnung als flüchtige Eingebung und es schürte ihren Kampfgeist. Sie schuldete ihrer Tochter und allen Töchtern eine Zukunft.

      »Hört mir zu, Schwestern.« Sie wartete, bis das Stimmengewirr erstarb, bevor sie fortfuhr. »Der ägyptische Feind steht vor den Toren Megiddos. Unsere Männer tun, was sie können, um die Armee aufzuhalten. Die mächtigste Waffe, die wir nun führen können, ist unser Glaube. Seid stark vor Gott. Betet für unsere Soldaten. Betet für Israel.«

      »Ich will kämpfen, Mutter«, sagte Ana. »Ich will diesen Männern zeigen, woraus die Frauen unseres Landes gemacht sind.«

      »Die Zeit dafür wird kommen, Mädchen. Jetzt ist es unsere Pflicht, unsere Kinder und uns selbst zu schützen, damit das Leben fortbestehen kann. Wir müssen Zuflucht im Tunnel suchen.«

      Anas Augen weiteten sich. »Aber Mutter, das ist feige …«

      Basemat hielt eine Hand in die Höhe. »Sei still und gehorche. Kannst du den Rauch ihrer Fackeln nicht riechen? Kannst du ihre wilden Schreie nicht hören? Die Ägypter sind erbarmungslos. Sie wollen uns vernichten. Unsere beste Verteidigung liegt im Inneren der Festung. Wir müssen uns selbst retten, damit sie unser Volk nicht zerschlagen.«

      Das Mädchen senkte den Kopf und sprach kein Wort mehr.

      Lauter fuhr Basemat fort: »Der Feind weiß nichts von Megiddos Tunnel. König Salomon erbaute ihn, um unsere Wasserversorgung in Kriegszeiten zu sichern. Seine Existenz ist nur der Königsfamilie und den höchstrangigen Statthaltern bekannt.« Sie hielt inne und erwiderte die Blicke mehrerer Frauen, um ihre Aussage zu bekräftigen. »Dort werden wir sicher sein.«

      Die Frauen hatten Angst. Sie konnte es an ihren gefurchten Stirnen sehen, an ihren zusammengebissenen Zähnen, in den Schatten in ihren Augen. Es war ihre Pflicht, sie zu beschützen, nicht nur vor dem Feind, sondern auch vor sich selbst. Ihr Glaube war brüchig, zerfiel angesichts der Not. Nur Hannah und ein paar weitere Ältere blieben stark, denn sie hatten solche Zeiten gesehen und sie überlebt.

      Sie wandte sich an Ana. »Führe die Frauen in den Tunnel. Auf der Stelle.«

      Das Mädchen gehorchte ohne Widerspruch. Trotz all ihres Eigensinns wusste sie, wann sie ihren Eltern nicht trotzen durfte. Es war ein stiller Tanz zwischen ihnen: Jeder wusste, wann er den anderen unterstützen musste. Deswegen herrschte Harmonie in ihrem Heim.

      Die Erde bebte. Basemat riss den Kopf zu den Befestigungsmauern herum und erblickte den riesigen, von einem Katapult geschleuderten Felsbrocken, der Megiddos Verteidigung durchbrach. Die Schreie der Männer durchbohrten ihre Eingeweide. Ihre tiefschwarzen Augen wurden feucht. In wenigen Augenblicken würden die Ägypter durch die Tore dringen.

      Sie drehte sich zu den fassungslosen Frauen und Kindern um. »Beeilt euch. Es bleibt wenig Zeit.«

      Sie übernahm das Ende der Kolonne, um sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wurde, und trieb sie zur Ostseite des Palasts. Auf einem Grasstück neben den Gemüsegärten blieben sie stehen. Der vier mal vier Ellen große Stein, der den Kammereingang verbarg, war so perfekt von den Pflanzen getarnt, dass niemand wusste, dass er da war.

      Basemat kniete sich hin und tastete im Gebüsch nach dem Hebel. Ihre Hand strich über die von Rost raue Eisenstange. Sie maß etwa zwei Handflächen in der Breite und war groß genug, um von zwei Männerhänden gepackt zu werden, aber klein genug, um im Dickicht verborgen zu liegen.

      Sie verspürte einen Anflug von Zweifel. Vier Männer waren nötig, um diesen Stein zu bewegen, und das mit einiger Anstrengung. Wie sollte eine Gruppe Frauen eine solche Aufgabe bewältigen?

      Die Erde bebte abermals. Obgleich sie die Westseite der Festung nicht sehen konnte, konnte sie die elenden Schreie der Männer hören, die in ihren Tod stürzten. Sie sah zum Himmel. Gib mir die Kraft.

      Sie wandte sich den Frauen zu und wählte fünf der jüngsten und fähigsten aus. »Ana, Leah, Nava, Shifra, Sarai. Löst eure Hüftschärpen.«

      Jede Einzelne entfernte den Stoffstreifen, der ihr eigenes Kleid zusammenhielt, und reichte ihn Basemat, die sie alle mit geschickten Fingern verflocht. Sie zog an beiden Enden des behelfsmäßigen Seils und war mit dessen Gewicht zufrieden. Sie zog es durch den Hebel und drehte sich wieder zu den Frauen um. »Jetzt müssen wir ziehen.«

      Die