Zu wissen, dass du während unserer Abwesenheit im Hintergrund warst und ein Auge auf die Praxis, Danny und den Rest der Familie hattest, hat mich ungemein erleichtert. Deshalb möchte ich auch für dich da sein, wenn es ein Problem gibt.«
Jenny Behnisch war eine erfolgreiche, hart arbeitende Frau, die im Laufe ihres Lebens viel erlebt und gesehen hatte. So nahm es kein Wunder, dass sie ihre Emotionen unter Kontrolle hatte. Doch angesichts Daniels inniger Worte kämpfte selbst die zurückhaltende Ärztin mit der Rührung.
»Das gibt es in der Tat«, gestand sie leise seufzend und stellte ihre leere Tasse auf den Tisch. »Es ist mir ein Rätsel, warum dieser Unfall passiert ist. Auch ein Gespräch mit Sebastian Keinath – das ist der Sanitäter, der gefahren ist – hat kein Ergebnis gebracht.«
»Was ist denn eigentlich genau passiert?«, erkundigte sich Daniel und schenkte Jenny und sich Kaffee aus der Thermoskanne nach.
»Auf dem Weg zu einem Einsatz hat Herr Keinath einen Fußgänger übersehen. Glücklicherweise konnte er gerade noch bremsen. Aber der Passant bekam einen solchen Schreck, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Er überlebte nur mit knapper Not.«
Diese Nachricht war in der Tat erschütternd. Dennoch war Daniel halbwegs erleichtert.
»Dann hat Herr Keinath vermutlich kein Strafverfahren zu befürchten.« Er kannte und schätzte den Rettungsfahrer aus seiner Zeit, als er Jenny Behnisch während ihrer schweren Erkrankung in der Klinik vertreten hatte.
»Bis geklärt ist, ob die Gesundheit des Patienten ohnehin angeschlagen war und der Herzinfarkt unausweichlich gewesen ist, hat Sebastian Keinath ein Fahrverbot«, berichtete Jenny und gab einen Löffel Zucker in ihren Kaffee. Obwohl es noch früh am Tag war, war sie seit Stunden auf den Beinen und konnte den Wachmacher gut gebrauchen. Der Unfall war beileibe nicht das einzige Problem, das sie beschäftigte. »Das ist insofern ein Glück, als ich ihn als Ersthelfer ungemein schätze. Sebastian gehört zu meinen zuverlässigsten Leuten, und es würde mich sehr schmerzen, ihn zu verlieren.« Ein paar Zuckerkrümel waren danebengefallen. Gedankenverloren tupfte Jenny sie mit der Fingerkuppe auf und leckte sie ab. »Dummerweise war das nicht der erste Vorfall …, wenn ich nur wüsste, was los ist mit ihm. Aber mir gegenüber will er sich nicht äußern.«
»Glaubst du, es bringt was, wenn ich mit ihm spreche?«
Über diesen Vorschlag dachte Jenny einen Moment lang nach. Dann nickte sie langsam.
»Das ist sicher eine gute Idee. Vor allen Dingen deshalb, weil du nicht hier arbeitest. Dir kann er sich vielleicht einfacher öffnen. Vor allen Dingen, weil er dich kennt und sehr schätzt, seit du mich hier in der Klinik vertreten hast. Er hat mehrfach betont, wie angenehm das Arbeiten unter deiner besonnenen Führung war.«
»Gut!« Daniel leerte seine Tasse und stand auf. Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. »Dann versuche ich gleich mal mein Glück, bevor ich zu Danny in die Praxis fahre.«
»Ach, ihr beide seid jetzt ein Team!«, erinnerte sich Jenny an die geplante Zusammenarbeit. Sie begleitete ihren Freund zur Tür. »Das ist bestimmt für beide Teile sehr spannend. Hoffentlich belastet die Kooperation eure gute Beziehung nicht.«
»Ich denke nicht. Aber natürlich kann auch ich nicht wissen, wie sich die Sache entwickelt«, räumte Daniel ehrlich ein. »Auf jeden Fall ist es eine große Chance. Für Danny wie auch für mich. Wir werden beide viel voneinander lernen.« Einen Moment lang hing er seinen Gedanken an seinen Sohn nach, der ihn so würdig vertreten, aber sicherlich über die Monate auch einen eigenen Stil im Umgang mit den Patienten entwickelt hatte. Wenn Daniel nur an all die Frauen dachte, die sich um einen Termin bei Danny rissen …, das erinnerte ihn an seine eigene Jugend, als die Frauen ihm und Felicitas das Leben mitunter schwer gemacht hatten. Nicht nur einmal hatte Fee Grund zur Eifersucht gehabt. Doch diese Zeiten lagen lange zurück, und Dr. Nordens Gedanken kehrten zurück zu dem glücklosen Sanitäter. »Wo finde ich Sebastian Keinath?«, erkundigte er sich vor dem Abschied bei Jenny.
»Das musst du bitte in der Notaufnahme erfragen. Die Kollegen dort schreiben die Einsatzpläne. Sie können dir sagen, ob er im Haus ist.«
»Gut, dann erkundige ich mich mal.« Er küsste Jenny links und rechts auf die Wange und machte sich dann auf den Weg in die Ambulanz.
Es war ein völlig neues und durchaus angenehmes Gefühl, nicht in Eile zu sein. Danny war sicher froh, noch eine Weile ohne den kritischen Blick des Vaters schalten und walten zu können. Und Daniel hatte Gelegenheit, sich mit der entsprechenden Ruhe und Sorgfalt den Menschen widmen zu können, die seiner Hilfe bedurften.
*
Doch wie es der Teufel wollte, hatte Sebastian Keinath an diesem Morgen keinen Dienst. Er hatte die ganze Nacht hindurch gearbeitet und steckte müde den Schlüssel ins Schloss der Tür, die zu seiner schönen Wohnung gehörte. Obwohl er frisch verheiratet war, konnte er sich nicht über das Heimkommen freuen.
»Kein Kaffeeduft«, seufzte er und warf den Schlüssel achtlos auf die Kommode, die seine Frau Melina auf einem Flohmarkt entdeckt und eigenhändig restauriert hatte. Besonders war daran der auf alt gemachte Anstrich in verschiedenen Farben. Die Kommode wirkte, als wäre sie mehrfach übermalt worden. Dabei hatte Melina die Farben so gewählt, dass sie harmonisch miteinander korrespondierten und der Kommode einen ganz besonderen Glanz verliehen. Nie hatte Sebastian ein ausgefalleneres Möbelstück gesehen und sich sofort darin verliebt, als seine Frau ihm ihre Idee stolz präsentiert hatte. Leider war er mit seiner Begeisterung nicht allein gewesen. »Kein liebevolles Frühstück. Kein warmes Bett.« Er ging hinüber in die offene Küche, die direkt ans Wohnzimmer angrenzte. Wie immer herrschte auch hier eine fast sterile Ordnung. »Ich weiß gar nicht, warum wir diese Wohnung überhaupt gekauft haben, wo doch eh kaum jemand zu Hause ist. Die paar Stunden könnte ich auch im Wohnheim unterkommen.« Um wenigstens die lähmende Stille zu übertönen, schaltete Sebastian das Radio an.
Ein Moderator plauderte fröhlich über die Freuden des Familienlebens, und am liebsten hätte Sebastian das Gerät aus dem Fenster geworfen. Da die Stille aber noch schlechter zu ertragen war, ging er aus dem Zimmer und kam erst zurück, als Musik spielte.
Seit die Idee seiner Frau, einer gelernten Möbelrestauratorin, auf einer Messe von einem Geschäftsmann entdeckt worden war, war ihr gemeinsames Leben nicht mehr dasselbe.
»Du musst das verstehen, Bastian! Das ist die Chance meines Lebens!«, hatte Melina ihn angefleht, als er sein ständiges Alleinsein neulich bemängelte. »Hubert macht mich mit den Größen der Designerszene bekannt. Sie reißen sich um meine originell restaurierten Möbel und meine neuen Ideen«, versuchte sie ihm wieder und wieder klarzumachen. »Wenn ich in der Szene erst mal bekannt bin und mir einen Namen gemacht habe, kann ich wieder öfter zu Hause sein.« Das hatte sie ihrem Mann schon vor Monaten versprochen. Und war doch immer weniger bei Sebastian, immer seltener zu Hause.
»Das kommt doch auch uns zugute«, erinnerte sie ihn ein anderes Mal daran, dass er als Sanitäter zwar recht ordentlich verdiente, aber nicht gut genug, um sich all die Träume von Luxus und großen Reisen zu erfüllen, die sie noch hatte.
»Ich wusste nicht, dass dir Luxus so wichtig ist.«
»Menschen ändern sich«, hatte Melina ihm zugerufen, bevor sie zu einer weiteren Reise aus der Wohnung gestürzt war.
So litt Sebastian Keinath nicht nur unter der ständigen Abwesenheit seiner Frau, sondern kämpfte auch noch gegen die nagenden Minderwertigkeitsgefühle, die sich nach und nach in ihm breitmachten.
»Ich habe Melina aus Liebe geheiratet. Weil ich sie gerne um mich habe und ihre Gesellschaft und Nähe über alles schätze«, schimpfte er vor sich hin, als ihm eine der Hochglanzdesignerzeitschrift in die Hände fiel, in denen seine Frau auf Fotos neben und auf ihren Möbeln posierte, die langen Beine in die Luft gereckt, das lachende Gesicht der Kamera zugewandt. Es handelte sich um eine neue Werbestrategie und der Plan schien aufzugehen. Eine Restauratorin, schön wie ein Model. Welcher Mann war davon nicht beeindruckt! »Nicht um sie wie viele andere in irgendwelchen Heften zu bewundern«, schnaubte Sebastian und ging zum Kühlschrank.
Als er die neuen Haftnotizen entdeckte, die