Du vergißt mich. Ich bin ja noch da, ich bin immer dort, wo Marion ist. Also gib den Weg frei.«
»Kommen Sie, Marlies«, raunt Karsten der an allen Gliedern bebenden Frau zu. Aber da hat Bendler schon in die Tasche gegriffen.
»Hund, verfluchter«, schreit er wie ein Tier auf und stößt zu…
Eva-Maria hat sich, von Angst und Grauen um Ulrich Karsten, ganz nahe herangepirscht. Sie sieht nur die unheimlich glühenden Augen des Betrunkenen und dann die Hand, die in die Tasche fährt.
Alles spielt sich blitzschnell ab. Erst als Eva-Maria, die sich im letzten Moment vor Karsten wirft, mit einem Wehlaut zu Boden stürzt, kommt Bewegung in die Menschen.
Bendler taumelt, stiert aus glasigen Augen auf die schlanke Gestalt im stahlblauen Kleid, auf den leichtgebräunten Nacken und auf die Schulter, aus der Blut träufelt. Dann blickt er auf das Messer in seiner Hand. Mit einem Schwung wirft er es über die Menschen, faßt sich mit beiden Händen an den Hals und sinkt in sich zusammen.
Menschen schreien auf, flüchten zur Garderobe. Stühle werden umgeworfen. Die Musik setzt aus, und dann herrscht Totenstille.
Karsten neigt sich mit kalkweißem Gesicht zu der stillen Gestalt am Boden hinab, nimmt sie auf und trägt sie davon.
Schweigend folgen William und Marlies, letztere bitterlich weinend, in die hinteren Räume.
Karsten läßt Eva-Maria in die Kissen gleiten, geht zum Telefon und läßt sich mit dem nächsten Arzt verbinden.
Dann tritt er an das Lager heran und preßt sein Taschentuch auf die Wunde.
Er erkennt sofort, daß es nur eine kleine Streifwunde ist, und sein Herz ist in heller Aufruhr.
Weich und zärtlich ist sein Blick, mit dem er Eva-Marias schönes, regloses Antlitz betrachtet. Wie sehr muß sie ihn lieben.
»Eva-Maria«, flüstert er, und ihm ist, als würde mit diesem sehnsüchtigen Ruf alles hinweggeschwemmt, was wie ein Eisenpanzer um sein Herz gelegen hat.
Er nimmt die schmale Hand auf und wartet still, keinen Blick von der Frau lassend, auf den Arzt.
An der Tür zu den Privaträumen hat Reincke kehrtgemacht.
»Komm, Marlies«, raunt er der Nichte zu. »Wir dürfen den armen Bendler jetzt nicht allein lassen.«
»Den Kerl, der Eva-Maria fast erstochen hat«, wehrt sie sich verzweifelt gegen seinen Griff.
»Sei lieb, Marlies.« Seine Stimme hat einen warmen, gütigen Klang. »Du kennst die Zusammenhänge nicht. Er ist wirklich ein armer, bedauernswerter Mensch. Bleib jetzt bei mir.«
Da folgt sie ihm gehorsam. Ja, sie ist auf einmal glücklich, daß er mit so viel Ernst zu ihr spricht.
Reincke trägt mit Hilfe zweier Kellner den ohnmächtigen Bendler in eines der Nebenzimmer, die auch als Garderobe dienen.
»Keine Polizei«, raunt er den ratlos dastehenden Männern zu. »Sorgen Sie dafür, daß der Betrieb vorn weitergeht. Die Musik soll weiterspielen.«
Bendler liegt wie tot, mit schneeweißem Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, vor ihnen.
Als er mit Marlies und dem Ohnmächtigen allein ist, wendet er sich Marlies, die auf der anderen Seite Platz genommen hat, zu.
»Hast du irgendein Erfrischungswasser bei dir?«
»Meine Tasche«, ruft sie entsetzt, hastet davon und kehrt mit ihrer Tasche zurück. Zitternd reicht sie ihm den kleinen Flakon.
Reincke gibt sich alle Mühe, Bendler wieder zu sich zu rufen, aber umsonst. Der Alkohol, der Schreck haben ihn in tiefe Nacht gestürzt, aus der er nicht zurückfindet.
»Einen Arzt«, wünscht Reincke, gibt Marlies ein Zeichen, hier auf ihn zu warten. »Sei tapfer, Marlies«, sagt er liebevoll. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie nickt. Unaufhörlich rinnen ihr Tränen aus den Augen. Was sich da abgespielt hat, kann sie nicht verstehen, es hat sie nur bis tief ins Innere gepackt.
Still sitzt sie neben dem reglosen Mann. Was er immer von einer Marion gesprochen hat? Eine Verwechslung?
*
»Gleich wird sie wieder zu sich kommen«, sagt der hergerufene Arzt zu Karsten, der die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepreßt hat.
»Vielen Dank«, sagt Karsten gepreßt, und der Arzt zieht sich zurück, wird draußen sofort von Reincke in Empfang genommen und zu Bendler geführt. Dort macht er ein sehr bedenkliches Gesicht.
»Der Mann muß sofort ins Krankenhaus. Da kann ich nichts tun«, stellt er seine Diagnose und reicht Reincke die Hand. Einen verwunderten Blick wirft er auf das reizende Geschöpf mit dem verweinten Gesicht. »Ich sorge dafür, daß ein Krankenwagen kommt.«
Still sitzen die beiden neben Frank Bendler, der nichts mehr von sich weiß, der leise, klagende Laute ausstößt und dann wieder merkwürdig still ist.
Manchmal treffen sich William Reinckes und Marlies’ Augen. Was sie in ihren Blicken lesen, läßt ihr Herz höher schlagen.
Ihre Hände finden sich über den Ruhenden hinweg.
»Ich hab’ dich sehr lieb, kleine Marlies.«
Ihre Augen werden größer und größer, und dabei rollen die Tränen daraus. Jetzt weiß sie selbst nicht mehr, sind es Glückstränen – oder weil das alles so furchtbar traurig und unverständlich ist.
Sie läßt ihre kleine Hand in Williams Rechte ruhen, fühlt sich behütet und geborgen, und als er mit der Linken ihr die nassen Wangen mit seinem Taschentuch trocknet, da lächelt sie ihn lieb und unendlich glücklich an.
»Ich glaube«, murmelt sie dabei, »ich habe dich auch lieb.«
*
Eva-Maria erwacht. Ein merkwürdiger Geruch steigt ihr in die Nase. Was ist mit ihr geschehen? Ihre Augen irren umher. Wie kommt sie in dieses fremde Zimmer? Sie will sich zur Seite drehen und stöhnt tief auf.
Sofort steht Ulrich Karsten neben ihr, der bisher am Fenster stand und in die wundersame Sommernacht und zu den Sternen emporgestarrt hat.
»Hast du Schmerzen, Eva-Maria?« Seine Stimme ist trunken vor Zärtlichkeit.
»Was ist los mit mir?« Ihre Augen hängen unnatürlich geweitet an seinem Mund, der keine Härte mehr zeigt, sondern weich und zärtlich aussieht.
Sie streckt ihm hilflos die Hand entgegen, die er zart umfaßt.
Erschüttert neigt er sich zu ihr. »Ich habe nicht gewußt, daß eine Frau so tief lieben kann, daß sie bereit ist, ihr Leben für den anderen wegzuwerfen.«
»Ach so«, sagt sie, und schlagartig weiß sie alles wieder. Sie sieht den schönen Raum, die tanzenden Menschen, ein paar düster glühende Augen und sich selbst vorwärtsstürmen. Sie lächelt ihn an. Ein bezauberndes, wissendes Lächeln. »Weißt du es nun?«
Ganz nahe ist sein Mund dem ihren. »Und noch viel mehr weiß ich, Eva-Maria. Ich liebe dich auch, von ganzem Herzen. Glaubst du mir das?«
Sie nickt und schließt die Augen.
»Eva-Maria, alles, was war, ist vergessen. Es gibt nur noch eine Frau in meinem Leben, dich. Du sollst mein guter Kamerad, meine Geliebte und später die Mutter meiner Kinder, unserer Kinder, sein.«
Er legt sein heißes Gesicht in ihre Hand. Sie fühlt, wie ihm die Tränen aus den Augen in ihre Handfläche tropfen. Sie schweigt. Aber Glück bedarf keiner Worte, und sie ist glücklich, unsagbar glücklich.
Nach langer Zeit, als Karsten sich wiedergefunden hat, sagt sie innig. »Ich glaube dir, Ulrich. Ich habe um deine Liebe geworben, denn ich liebte dich vom ersten Augenblick an. Ich wußte um die Stärke dieser Liebe.
Weißt du nicht, daß Liebe und der Glaube an einen Menschen Berge versetzen kann?«
Er