daß Miss Nelson vor einiger Zeit in finanziellen Schwierigkeiten war und von Mr. Merrivan ein Darlehen von dreihundert Pfund erhielt. Dieses Darlehen wurde zurückgezahlt mit einer Summe, die durch zwei Wechsel gedeckt wurde. Albert Selim hat ihr das Geld beschafft – der Mann, der als Mörder Mr. Merrivans gilt.
Diese Wechsel, die sich noch am Tage vor der Tat im Haus des Ermordeten befanden, sind verschwunden. Wie lernte die junge Dame den berüchtigten Albert Selim kennen? Wie wurde sie so gut mit ihm bekannt, daß er ihr eine große Summe vorstreckte, ohne die geringste Sicherheit in der Hand zu haben? Dieser Punkt muß aufgeklärt werden. Es steht aber außer allem Zweifel, daß der Name von Darius Merrivan als Akzeptant auf den Wechseln stand. Die Neuigkeit, daß diese Scheine tatsächlich in den Besitz des Verstorbenen übergegangen waren, kam wie ein Donnerschlag. Man kann sich dies nur dadurch erklären, daß die Unterschriften des Akzeptanten gefälscht waren. Ich will hiermit nicht sagen, daß Miss Nelson dies wußte oder daß sie in irgendeiner Weise an dem Betrug beteiligt war, der wahrscheinlich mit diesen Scheinen vorgenommen wurde. Eine Woche vor der Mordtat hat Mr. Merrivan seinem Neffen, Mr. Artur Wilmot, die Wechsel gezeigt. Er verwahrte sie zusammen mit der Heiratsurkunde eines früheren Dienstboten, die er wahrscheinlich als Erinnerung aufhob, und mit verschiedenen anderen Dokumenten in dem Raum, in dem Mr. Merrivan die letzte Unterredung mit Miss Nelson hatte und wo er ermordet wurde.
Auch diese Dokumente sind verschwunden. Als die Polizei das Haus durchsuchte, fand man im Kamin des Mordzimmers einen Haufen verbrannten Papiers. Es ist klar, daß der Mörder den kleinen Geldschrank im Zimmer plünderte und durchsuchte, um in den Besitz dieser Papiere zu kommen, und sie dann verbrannte, bevor er floh. Wer hätte schon Interesse an ihnen gehabt haben können? Offensichtlich doch nur die Person, die die Unterschrift Mr. Merrivans fälschte!
Was nun den Aufenthalt Miss Nelsons am Abend des Verbrechens angeht, so ist ein Zeuge vorhanden, der sie das Haus Mr. Merrivans betreten sah. Auf der anderen Seite ist es eine untrügliche Tatsache, daß niemand sie wieder herauskommen sah. Doktor Macleods Aussage kann als ein entschuldbarer Irrtum übergangen werden. Er sah eben eine Frau unter seinem Fenster vorbeikommen und bildete sich ein, daß sie aus Mr. Merrivans Haus gekommen sei. Der Schreiber dieser Zeilen ist inzwischen in dem Zimmer gewesen, das Doktor Macleod bewohnte, und von dessen Fenster aus er die Wahrnehmung gemacht haben will. Er hat selbst feststellen können, daß es absolut unmöglich ist, von dort aus die Haustür Mr. Merrivans zu sehen. Doktor Macleods Irrtum hat dazu beigetragen, die Untersuchungen noch zu erschweren.
Die bemerkenswerteste Tatsache ist aber die außerordentliche Vorsicht, mit welcher er diesen Damenbesuch kommentierte. Er sagte zu einem Berichterstatter, es sei wahrscheinlich eine Nachbarin gewesen. Diese Angabe steht in direktem Widerspruch zu seiner Aussage, daß die Frau unter seinem Fenster vorüberging. Einem zweiten Berichterstatter erzählte er noch eine andere Version. Die Entdeckung des Ringes behandelte er als nebensächlich. Nur in einer Beziehung war er konsequent: Er versuchte mit allen Mitteln, den Namen Miss Nelsons aus der Diskussion des Falles herauszuhalten. Er stellte sich zwischen sie und alle, die – wie er selbst – sich bemühten, den Mörder von Darius Merrivan zu entdecken.‹
Andy las den Artikel noch einmal. Er war in seiner Art ein Meisterstück: Die Wahrheit war so boshaft mit Verfälschungen gemischt, daß nur ein Eingeweihter wissen konnte, wo sich die wirklichen Tatsachen von den Entstellungen schieden. Es waren natürlich Artur Wilmots Aussagen, die dieser Downer so glänzend verwertet hatte.
Andy zog sich schnell an und eilte zu Stella. Sobald er sie sah, wußte er, daß sie den Artikel gelesen hatte.
»Mr. Scottie hat ihn zuerst gesehen. Er hat meinen Vater auf einen Spaziergang mitgenommen, damit er draußen skizzieren solle. Glücklicherweise hatten sie das schon vor mehreren Tagen verabredet.«
»Dein Vater hat also den Artikel nicht gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er war erstaunt über ihre Selbstbeherrschung. Er hatte erwartet, sie vor einem Nervenzusammenbruch zu finden.
»Artur hat es Downer erzählt«, erklärte sie, »Nun weißt du die Wahrheit, Andrew.«
»Ich wußte sie schon lange. Nur daß du Geld geliehen hattest, war mir neu. Du hast es natürlich für deinen Vater besorgt?«
»Ja«, sagte sie ohne Zögern. »Es hat jetzt keinen Zweck mehr, es zu verheimlichen.«
In ihrem Blick lag ein sonderbares Leuchten, wie er es noch nie an ihr bemerkt hatte.
»Du hast mich beschützt, aber was wird jetzt geschehen?«
»Ich will dir sagen, was Downer erwartet – er glaubt, daß ich noch heute meinen Abschied einreiche«, erwiderte er in sachlichem Ton.
Sie erschrak.
»Dann hat diese Sache also deine Karriere ruiniert, Andy?«
»Ich gebe zu, daß ich mir darüber keine falschen Vorstellungen mache. Aber ich habe meine Pflicht nur insoweit vernachlässigt, als ich mich weigerte, eine Spur aufzunehmen, die mich doch zu keinem positiven Ergebnis geführt hätte. Ich weiß, daß du den Mord nicht begangen hast. Wenn ich meinen Abschied einreiche, dann muß ich die Redaktion des ›Megaphone‹ wegen Verleumdung verklagen, und du würdest zu einem gleichen Schritt gezwungen. Aber wir wollen die Sache nicht vors Gericht bringen, Stella, ich weiß noch einen besseren Weg. Diese verfluchte Frau unter dem Fenster! Ich habe natürlich niemand gesehen«, sagte er ganz offen, »ich wollte nur ein Alibi für dich schaffen. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, daß Sheppards Dienstmädchen noch um diese Zeit ausging, damit sie Downer meine Aussage erklären konnte.«
»Ist das Mädchen tatsächlich ausgegangen?«
Er nickte.
»Downer ist in solchen Dingen zuverlässig. Wenn er sagt, daß sie um elf Uhr ausging, dann kannst du dein ganzes Vermögen darauf wetten, daß er recht hat. Wilmot gab ihm die Informationen, er ist natürlich unrechtmäßig in den Besitz der Schriftstücke gekommen. Du hast doch die Wechsel selbst hierhergebracht?«
Sie schwieg eine Weile.
»Andy, ich muß dir ein Geständnis machen«, sagte sie dann. »Ich hätte es dir gleich sagen sollen, aber Scottie riet mir dringend, es nicht zu tun.«
Sie erzählte ihm von dem Besuch Artur Wilmots, wie er ihr die richtigen Wechsel zeigte und wie Scottie sie ihm abgenommen hatte. Andy hörte interessiert zu, und plötzlich wurde ihm alles klar.
»Nun verstehe ich. Dieser erpresserische Schurke! Durch das Ausplaudern suchte er sich auf billige Weise an dir zu rächen. Niemand kann beweisen, daß sein Onkel ihm die Wechsel nicht eine Woche vor seinem Tod gezeigt hat, und ihr Verschwinden sieht natürlich sehr verdächtig aus, wenn man bedenkt, daß in Merrivans Kamin tatsächlich Asche von verbranntem Papier gefunden wurde. Was sollen wir nun tun, Stella?« Er war im Zimmer auf und ab gegangen. »Ich habe Wilmot die Erlaubnis gegeben, das Haus zu betreten, und dabei hat er diese Dinge gefunden. Was war es doch? Die Heiratsurkunde eines früheren Dienstboten, einige wichtige Dokumente und die Wechsel. Warte einen Moment!«
Er eilte mit großen Schritten davon.
19
Andy hatte Glück, den Sergeanten gleich zu treffen, der zugegen gewesen war, als Artur Wilmot das Haus betreten hatte.
»Nein, Sir, ich glaube, er war fast die ganze Zeit im Schlafzimmer. Er war überhaupt nicht lange hier«, erwiderte der Beamte auf seine Frage.
Andy lief die Treppe hinauf, jedesmal zwei Stufen zugleich nehmend. Er hatte Merrivans Schlafzimmer schon drei-oder viermal durchsucht. Rein gefühlsmäßig wußte er, daß das Geheimfach irgendwo in der Nähe des Bettes sein mußte. Das Wappen und die Tudor-Rose zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, da er bemerkte, daß das eine flache Ende des Blumenblattes geradestand und mit dem Bettpfosten einen rechten Winkel bildete, während es an dem anderen Pfosten