Edgar Wallace

Gesammelte Krimis (69 Titel in einem Buch: Kriminalromane und Detektivgeschichten)


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es ist jetzt höchste Zeit, daß wir dieses Land verlassen.«

      Seine beiden Begleiter betrachteten das große, starke Fahrzeug mit lebhaftem Interesse.

      Besonders Tiger Brown zeigte sich beeindruckt von der klugen Voraussicht seines Chefs.

      »Es ist ein gutes Boot. Ich habe es mit ausreichenden Vorräten auch für eine längere Fahrt versorgt«, bemerkte Helder. Er öffnete das Tor, das zum Fluß führte, und sie konnten die dunkle Wasserfläche sehen.

      »Einsteigen«, sagte er dann und zeigte auf eine Leiter, an einer Wand des Bootshauses hing.

      Brown holte sie, lehnte sie gegen das Heck des Motorboots und stieg hinauf. Helder wandte sich an Verity und zeigte nach oben.

      »Ich denke nicht daran, mit Ihnen zu gehen!« rief sie ängstlich. »Machen Sie, was Sie wollen – ich bleibe hier.«

      »Sie werden es sich noch überlegen, Mrs. Bell. Glauben Sie, daß ich Lust habe, Ihrem Mann im Chelmsford-Gefängnis zu begegnen?«

      Sie wurde blaß und taumelte einige Schritte zurück.

      Helder lachte triumphierend.

      »Das haben Sie nicht gedacht, daß ich Ihr Geheimnis kenne, wie? Und verlassen Sie sich darauf, ich werde nicht davor zurückschrecken, den Gebrauch davon zu machen, den ich für richtig halte. Was meinen Sie, wie sich das ›Post Journal‹ über einen kleinen Artikel von mir freuen würde! Also – ersparen Sie sich und Ihrem Mann diese Blamage und fügen Sie sich meinen Anordnungen.«

      »Mein Mann ist unschuldig«, sagte sie leise. »Er ist für jemand anders ins Gefängnis gegangen.«

      Helder verbeugte sich spöttisch.

      »Natürlich, wie Sie wollen! Das behaupten die meisten Leute, die hinter Gittern sitzen. Und jetzt – einsteigen! Aber ein wenig schnell, wenn ich bitten darf.«

      Sie wußte, daß weiterer Widerstand zwecklos war. Wenn sie ihm nicht gehorchte, würde er das Geheimnis, das sie mit so viel Opfern und Mühe gehütet hatte, der Öffentlichkeit preisgeben.

      Verzweifelt sah sie sich nach den Begleitern Helders um, aber sie wußte, auch von dort war keine Hilfe zu erwarten. Die beiden hatten jetzt nur einen Wunsch – zu entkommen.

      Mühsam faßte sie sich und kletterte die Leiter hinauf. Helder folgte dicht hinter ihr.

      Oben löste Helder sofort die Sperren, die das Boot an seinem Platz festhielten. Rasch glitt es auf den leicht geneigten Holzschienen, auf denen es ruhte, ins Wasser. Gleich darauf begann der Motor dumpf zu rattern, und mit spritzender Bugwelle fuhren sie stromabwärts, der offenen See zu.

      Clinker war nach vorne gegangen, und Tiger Brown stand am Steuer. Helder blieb mit Verity allein in der kleinen hinteren Kabine. Er knipste das Licht an und ging auf Verity zu, die entsetzt vor ihm zurückwich.

      »Wie wäre es, wenn wir ein wenig miteinander plauderten?« fragte er höhnisch. »Schließlich könnten Sie mir erzählen, ob Sie in Ihrer jungen Ehe glücklich sind oder nicht.«

      Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt und sah ihn verächtlich an. Ihr Blick brachte ihn in Wut. Wie damals in seinem Büro war er nahe daran, jede Selbstkontrolle zu verlieren.

      Mit einer raschen Bewegung knipste er das Licht aus und versuchte sie zu fassen. Doch sie stand bereits am anderen Ende der Kabine.

      »Wenn Sie mir zu nahe kommen, springe ich über Bord.«

      »Keine Angst«, entgegnete er zynisch. »Sie sind mir viel zu wertvoll, als daß ich nicht ganz besonders um Ihr Wohlergehen besorgt wäre. Comstock Bell wird ganz bestimmt dumm genug sein, eine anständige Summe als Lösegeld für Sie zu bezahlen.«

      Während der letzten Worte hatte er sich ihr im Dunkeln leise genähert. Bevor sie ausweichen konnte, war er mit einem Satz bei ihr und packte sie an den Schultern. Sie schrie laut um Hilfe.

      »Halten Sie den Mund!« zischte er sie wütend an.

      »Lassen Sie mich in Ruhe«, schrie sie, so laut sie konnte. Sie hoffte, daß wenigstens Tiger Brown oder Clinker hereinschauen würden.

      Es wurde ihm jetzt selbst unbehaglich, und er ließ sie wieder los.

      »Machen Sie sofort das Licht an« – sie nützte ihren Erfolg aus.

      Tatsächlich ging er zum Schalter, und im nächsten Augenblick war die Kabine wieder hell erleuchtet. Außer sich vor Aufregung wandte sie ihm den Rücken zu und schaute durch das kleine Fenster auf den Strom hinaus – plötzlich fuhr sie zusammen.

      »Gott sei Dank«, flüsterte sie, »die ›Seabreaker‹.«

      Er war neben sie getreten und sah zu seinem Schrecken einen kleinen Dampfer, der mit höchster Fahrt direkt auf sie zu hielt. Einen Augenblick lang war er fassungslos, und diesen Moment benützte sie. Bevor er sie festhalten konnte, war sie durch die Kabinentür gerannt und an die Reling gestürzt. Er konnte sie zwar noch einholen, doch mit der Kraft der Verzweiflung riß sie sich los und sprang ins Wasser.

      Fluchend stand er an der Reling, doch dann sah er die Lichter des Dampfers immer näher kommen – es blieb ihm nichts übrig, als so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

      Tiger Brown, der das Steuer für einen Augenblick Clinker übergeben hatte, kam gerade auf ihn zu.

      »Was ist denn los, zum Teufel?« fragte er.

      Helder stieß ihn zur Seite.

      »Schnell, wir müssen das Letzte aus der Maschine herausholen. Wenn wir die belgische Küste vor Tagesanbruch erreichen, haben wir es geschafft!«

      Nach fünf Minuten drehte er sich wieder um und atmete erleichtert auf. Der Zwischenraum zwischen ihrem Boot und dem verfolgenden Schiff wuchs von Sekunde zu Sekunde, denn die ›Seabreaker‹ hatte beigedreht. Helder zweifelte nicht daran, daß man Boote aussetzte, um nach Verity Bell zu suchen.

       Inhaltsverzeichnis

      In der Kabine der ›Seabreaker‹ lag Verity Bell. Sie fühlte sich noch sehr schwach, lächelte aber zufrieden, als sie die Augen aufschlug. Comstock saß neben ihr. Der Dampfer hatte die Fahrtrichtung geändert und fuhr jetzt den Strom hinauf. Gold, der neben dem Kapitän auf der Brücke stand, sprach kein Wort. Er hatte alle Küstenstationen benachrichtigt und war gespannt, ob es noch gelingen würde, das Motorboot aufzuhalten. Auch die französischen und belgischen Küstenstationen waren bereits alarmiert.

      Draußen heulte ein starker Nordwestwind.

      Verity hatte Comstock schon seit einiger Zeit aus halbgeschlossenen Augen betrachtet, noch bevor er merkte, daß sie wieder zum Bewußtsein gekommen war. Sie sah die harten Linien, die der Gefängnisaufenthalt in sein Gesicht gezeichnet hatte, las aber auch Befriedigung und Erleichterung in seinem Blick.

      Was sollte nun werden? Sie war bereit, auch der schlimmsten Möglichkeit entschlossen entgegenzutreten. Was mochte ihr die Zukunft bringen? Irgendeine Lösung mußte man finden – so oder so.

      Mit einem Lächeln öffnete sie die Augen.

      »Nun?« fragte sie freundlich.

      »Du warst wohl sehr überrascht, mich hier wiederzusehen?« begann er. Eine merkwürdige Scheu hielt ihn davon ab, sie bei ihrem Namen zu nennen.

      »Nein«, erwiderte sie ruhig.

      Ein langes Schweigen trat ein.

      »Mein Onkel …«, fuhr sie schließlich fort, »ist er – tot?«

      Comstock Bell nickte traurig.

      »Ich habe es befürchtet«, sagte sie leise. »Er war so gut zu mir.« Ihre Augen standen voll Tränen. »Jetzt bin ich –« sie brach ab und weinte fassungslos.