Edgar Wallace

Gesammelte Krimis (69 Titel in einem Buch: Kriminalromane und Detektivgeschichten)


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denn von Natur aus war er enthaltsam und sparsam. Immerhin lebte er wie ein Gentleman, das konnten alle Bewohner von Somers Town bestätigen. Er ging zu Bett, wann es ihm paßte, stand manchmal mit den Hühnern – die nicht da waren – auf oder blieb im Bett liegen und las seine Lieblingszeitung.

      Mr. Jakobs war ein glücklicher Mensch. Niemals fehlte ihm das Kleingeld zu einem Glas Ale, und er überlegte sich nicht lange, ob er einen Schilling mehr oder »weniger beim Rennen setzen sollte. Manchmal leistete er sich sogar das Vergnügen, das Frühstück im Bett einzunehmen.

      Jeden Sonnabendmorgen erhielt er mit der Post fünf Pfund von einem Wohltäter, der nichts weiter von ihm verlangte, als daß er glücklich lebte und sich nicht daran erinnerte, wie er einmal einen bekannten Finanzmann die Taschen eines Toten durchsuchen sah.

      Das hatte Willie Jakobs nämlich gesehen.

      Er selbst hatte sich seit seiner Jugend als Dieb betätigt, und er war nicht wenig stolz auf seine Vorfahren, die dasselbe Handwerk betrieben hatten. Eigentlich war er auch nicht mit der Absicht in die Firma Black & Co. eingetreten, sich eine zwanzigjährige Pension zu verschaffen; vielmehr hatte er nur auf eine günstige Gelegenheit gehofft, einmal schnell eine große ›Dividende‹ einstreichen zu können. Aber Oberst Black hatte ihn in der ersten Zeit scharf beobachtet.

      Damals gehörte ein unangenehmer Mann dem Aufsichtsrat der Firma an – das heißt, er war nur dem genialen Oberst Black unangenehm. Er starb denn auch eines plötzlichen Todes. Der Arzt, der den Toten untersuchte, kam zu dem Schluß, daß ein Kollaps die Ursache gewesen sein müsse.

      Auch Mr. Jakobs wußte es nicht besser. Er hatte sich eines Tages heimlich in das Büro von Oberst Black geschlichen; das war nichts Außergewöhnliches, denn Willie Jakobs stahl in aller Heimlichkeit, aber mit gutem Erfolg. Er war gerade auf der Suche nach Briefmarken und Kleingeld, die häufig im Büro des Obersts herumlagen; es war allgemein bekannt, daß Black in diesen Dingen sorglos und nachlässig war. Jakobs hatte allerdings erwartet, das Büro leer zu finden, und als er sah, wie der große Oberst Black persönlich sich über eine hingestreckte Gestalt beugte, war er vor Schreck wie gelähmt.

      Der Oberst war eifrig damit beschäftigt, die Taschen des Toten nach einem Schreiben zu durchsuchen, denn der auf dem Boden liegende Mann war zu ihm gekommen, um ihm seine Rücktrittserklärung zu überreichen, und unvorsichtigerweise hatte er alle Gründe hineingeschrieben, die ihn zu diesem Schritt bestimmten. Die größte Torheit freilich war es gewesen, Oberst Black dies alles zu erzählen.

      Willie Jakobs wußte natürlich nichts von diesem Brief und konnte sich deshalb auch nicht richtig erklären, warum Black die Taschen des Toten durchwühlte. Sein primitiver Verstand fand die Lösung darin, daß Oberst Black nach Geld gesucht hätte. Das sagte er Black sogar ins Gesicht, ohne sich um etwaige Folgen zu kümmern.

      Bei der später angeordneten gerichtlichen Leichenschau trat Mr. Jakobs nicht als Zeuge auf. Offiziell wußte er überhaupt nichts von der Angelegenheit. Gleichzeitig aber zog er sich von seiner Tätigkeit bei der Firma zurück, und seither lebte er ohne irgendeine Beschäftigung in seinem Hause in Somers Town. Er war glücklicher Pensionär auf Lebenszeit, dessen einzige Pflicht darin bestand, über gewisse Dinge den Mund zu halten.

      Zwei Jahre später erhielt er am Weihnachtsmorgen durch die Post eine prachtvolle Bonbonniere. ›Mit den besten Wünschen für ein frohes Fest‹, stand auf einer Begleitkarte. Aber der Absender hatte es nicht für nötig gehalten, seinen Namen anzugeben. Mr. Jakobs, der sich wenig aus Schokolade machte, wunderte sich über die teure Aufmachung des Geschenks und wünschte, daß der gütige Spender lieber Bier geschickt hätte.

      »Heda, Spot, fang!« rief er und warf seinem Hund, der Süßigkeiten liebte, ein Stück Schokolade hin. Spot knabberte es auf und wedelte mit dem Schwanz. Aber plötzlich ging ein Zittern durch seinen Körper, er legte sich hin und war gleich darauf tot.

      Es dauerte allerdings einige Zeit, bis Willie Jakobs den Zusammenhang zwischen dem toten Tier und dem Weihnachtsgeschenk entdeckte.

      Er versuchte mit demselben Erfolg das Experiment bei dem Hund seines Hauswirts und dem Kanarienvogel eines anderen Mieters, ja er hätte allmählich alle Tiere von Somers Town ins Jenseits befördert, wenn ihn nicht sein Hauswirt durch eine Anzeige wegen Mordversuchs daran gehindert hätte. Dann kam die Wahrheit ans Tageslicht: Die Schokolade war vergiftet. Willie Jakobs sah sich mit Genugtuung als Held einer dunklen Vergiftungsaffäre in den Zeitungen. Diese Sache verlief zwar im Sande, sie hatte aber unangenehme Folgen für ihn, denn sein Bild wurde von einem kleinen Kaufmann erkannt, den er einst bestohlen hatte. Auf diese Weise wurde er in derselben Woche zum zweitenmal verhaftet.

      Als Mr. Jakobs wieder aus dem Gefängnis kam – er hatte die bei ihm übliche Zeit von drei Monaten abgesessen –, erwartete er nun, eine ›Rente‹ für diese ganze Zeit zu bekommen. Statt dessen erhielt er nur zwanzig Pfund und einen maschinegeschriebenen Brief mit der Mitteilung, daß es dem Absender leid tue, ihn in Zukunft nicht mehr unterstützen zu können.

      Mr. Jakobs schrieb an Black und empfing als Antwort ein Schreiben, in dem der Oberst erklärte, daß er das Ansinnen Jakobs nicht verstehen könne; er habe ihm niemals Geld geschickt und wisse auch gar nicht, warum er ihm Geld schicken sollte.

      Willie Jakobs packte angesichts dieser Undankbarkeit und Niedertracht seines früheren Chefs die Wut; er trug den Brief zu einem Rechtsanwalt und erzählte ihm die ganze Geschichte. Aber der lehnte die Sache mit einem einzigen Wort ab: »Erpressung!«

      Von da an war Mr. Willie Jakobs trotz seines Widerwillens gezwungen, wieder zu arbeiten; das heißt, er ›arbeitete‹ auf seine Weise. Er spekulierte gelegentlich an der Börse, wenn er einen guten Tip bekam, und betätigte sich wieder als Dieb. Glücklicherweise hatte er seine Geschicklichkeit im Taschendiebstahl noch nicht eingebüßt. So hatte er bald recht ansehnliche Erfolge. Den ›Vertrieb‹ der Beute übernahm ein Hehler, der sich vor kurzer Zeit in der Eveswall Road niedergelassen hatte. Willie Jakobs ging es dabei gut, sogar so gut, daß er Oberst Blacks Verhalten wieder milder beurteilte.

      An dem Abend, an dem Lord Verlond seine Gesellschaft gab, machte sich Willie Jakobs auf den Weg, um, wenn möglich, noch ein paar ›Geschäfte‹ zu machen.

      Nachdem er über den engen Hof und durch die schmalen Gassen gegangen war, die ihn von der Stibbington Street trennten, wandte er sich südwärts zur Euston Road. Dann passierte er gemächlich die Tottenham Court Road, um zur Oxford Street zu gelangen.

      Die Tottenham Court Road war zu dieser Abendstunde sehr belebt. Die Leute interessierten sich für die glänzenden Auslagen, flanierten auf und ab und begafften sich gegenseitig. An der Autobushaltestelle herrschte lebhafter Verkehr. Das war für Willie Jakobs das rechte Milieu. Er schätzte Leute, die ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt konzentrierten und keine Gedanken für andere Dinge hatten. In gewisser Weise war er ein guter Psychologe. Er sah sich also nach einem Menschen um, dessen Aufmerksamkeit so abgelenkt war, daß er Nutzen daraus ziehen konnte.

      An einem eben haltenden Autobus drängte sich eine kleine, ungeduldige Schar von Leuten, die es kaum erwarten konnten, daß die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren. Unter diesen erspähte er mit schnellem Blick sein Opfer.

      Es war ein untersetzter Herr in mittleren Jahren; nach seiner Kleidung taxierte Jakobs ihn als vermögend.

      Jakobs hatte durchaus nicht die Absicht, eine Autobusfahrt zu unternehmen, aber er begann plötzlich, sich mit den Ellenbogen einen Weg zur Tür zu bahnen.

      Er kam auch gut durch die Menge, dann strengte er sich jedoch nicht mehr an, tat so, als ob er sich an eine wichtige Verabredung erinnerte, und suchte wieder einen Ausweg aus dem Menschenknäuel. Nachdem es ihm gelungen war, aus dem Gedränge herauszukommen, wandte er sich um und wollte sich schnell aus dem Staube machen.

      In diesem Augenblick legte sich jedoch eine feste Hand auf seine Schulter. Er schaute sich rasch um – ein gutgekleideter, schlanker junger Mann stand hinter ihm.

      »Hallo – wollen Sie denn nicht mit dem Autobus fahren?«

      »Nein, Mr. Fellowe. Ich wollte zwar eigentlich mitfahren, aber eben