vergiftet halte, stak in des Mannes Schädel; man steht noch die Spur. Diese beschriebene Karte lag auf dem Tisch, und daneben jener sonderbare Stock mit dem Steingriff. Wie paßt das alles zu Ihrer Theorie?«
»Bestätigt sie in jeder Hinsicht,« sagte der dicke Detektiv sehr selbstbewußt. »Das Haus ist ja voll indischer Kuriositäten. Thaddäus hat den Stock mitgebracht, und wenn der Splitter giftig ist, kann Thaddäus ebensogut wie ein anderer einen mörderischen Gebrauch davon gemacht haben. Die Karte halte ich für irgend einen Hokuspokus, um uns irre zu führen. Die einzige Frage ist, wie kam er davon? O natürlich, da ist ja ein Loch in der Decke.«
Mit großer Gelenkigkeit, in Anbetracht seines Umfangs, erstieg er die Trittleiter und klemmte sich durch das Loch in den Zwischenboden. Gleich darauf verkündete er mit triumphierender Stimme, daß er die Fallthür entdeckt habe.
»Dergleichen findet er wohl,« bemerkte Holmes achselzuckend. »Zuweilen dämmert’s in seinem Verstand; wären nur die gescheiten Narren nicht die allerunbequemsten.«
Athelney Jones kam jetzt die Leiter wieder herabgeklettert. »Sehen Sie,« sagte er, »Thatsachen sind doch immer sicherer als Theorien. Meine Ansicht hat sich bestätigt. Im Dach ist eine Fallthür, die sogar halb offen steht.«
»Ich habe sie aufgemacht.«
»Was? Wirklich! Sie haben sie also gefunden?«
Er schien etwas niedergeschlagen über diese Entdeckung. »Nun einerlei, sie beweist, wie unser Mann entkommen ist. – Inspektor!«
»Ja, Herr,« tönte es aus dem Gange.
»Bitten Sie Herrn Scholto einzutreten. – Herr Scholto, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Sie vorsichtig in Ihren Aeußerungen sein müssen, weil sie zu Ihren Ungunsten gebraucht werden könnten. Ich verhafte Sie im Namen der Königin als mitbeteiligt am Tode Ihres Bruders.«
»Da haben wir’s! Sagte ich’s Ihnen nicht!« schrie der arme, kleine Mann, indem er die Hände rang und uns nacheinander jammervoll anblickte.
»Machen Sie sich keine Sorge darüber, Herr Scholto,« beruhigte ihn Holmes. »Ich glaube, daß ich mich verpflichten kann, Ihre Unschuld zu beweisen.«
»Versprechen Sie nicht zu viel, Herr Theoretiker; versprechen Sie nicht zu viel,« fuhr der Detektiv auf. »Sie möchten es doch schwieriger finden, als Sie denken.«
»Ich werde nicht allein die Anklage entkräften, sondern ich will Ihnen auch den Namen und die Beschreibung von einem der beiden Leute zum besten geben, die gestern abend in diesem Zimmer waren. Ich habe alle Ursache zu glauben, daß er Jonathan Small heißt. Er ist ein ungebildeter Mann, klein von Gestalt und gelenkig, ihm fehlt das linke Bein und er trägt einen Stelzfuß, dessen innere Seite abgescheuert ist. Sein rechter Stiefel hat eine grobe, vierkantige Sohle und einen eisernen Beschlag um den Absatz. Er ist in mittleren Jahren, sonnverbrannt und ist ein Sträfling gewesen. – Diese wenigen Andeutungen werden Ihnen vielleicht von Nutzen sein; auch mache ich Sie noch darauf aufmerksam, daß ihm ein gutes Teil Haut auf der Handfläche fehlt. Der andere Mann –«
»Oha, der andere Mann?« fragte Athelney Jones mit höhnischer Stimme, obgleich ihn diese genauen Angaben, wie sich leicht merken ließ, höchlich in Erstaunen gesetzt hatten.
»Ist eine ziemlich merkwürdige Persönlichkeit,« versetzte Sherlock Holmes, indem er sich auf dem Absatz umwandte. »Ich hoffe binnen kurzem in der Lage zu sein, Sie dem Paare vorzustellen. Auf ein Wort, Watson.«
Er führte mich hinaus bis auf den Treppenabsatz.
»Wir haben über diesem unerwarteten Ereignis den ursprünglichen Zweck unserer Fahrt ganz aus dem Gesichte verloren,« sagte er.
»Daran dachte ich eben; es ist nicht in der Ordnung, daß Fräulein Morstan noch länger in diesem Unglückshaus verweilt.«
»Nein. – Sie müssen die Dame nach Hause begleiten. Sie wohnt bei Frau Cäcilie Forrester in Nieder-Camberwell – das ist nicht weit. Ich warte hier auf Sie, wenn Sie mit mir zurückfahren wollen – oder sind Sie vielleicht müde?«
»Durchaus nicht. Ich würde keine Ruhe finden, bevor ich mehr von dieser abenteuerlichen Angelegenheit weiß. Zwar habe ich das Leben schon früher von seiner dunkeln Seite kennen gelernt, aber ich gestehe, daß die erschütternden Erlebnisse dieses Abends meine Nerven stark aufgeregt haben. Trotzdem würde ich gerne mit Ihnen der Sache auf den Grund kommen, nun ich mich einmal damit befaßt habe.«
»Für mich wird Ihre Gegenwart von großem Wert sein,« antwortete Holmes. »Wir beide wollen den Fall allein durchführen und den klugen Jones seinen Hirngespinsten überlassen. Wenn Sie Fräulein Morstan an ihrem Hause abgesetzt haben, so fahren Sie, bitte, nach der Pinchinstraße Nro. 3, nicht weit vom Ufer bei Lambeth. Im dritten Haus rechter Hand ist ein Laden mit ausgestopften Tieren. Sie werden im Fenster ein Wiesel sehen, das ein junges Kaninchen in den Krallen hält. Klopfen Sie den Ausstopfer, den alten Sherman, heraus. Ich lasse mich ihm empfehlen, und er soll mir unverzüglich den Toby schicken. Sie müssen den Toby zugleich in der Droschke mitbringen.«
»Ein Hund, wie ich vermute?«
»Ja, ein sonderbarer Mischling mit ganz erstaunlichem Spürsinn. Mir ist Tobys Beistand lieber als die Hilfe der ganzen Geheimpolizei von London.«
»Gut, ich bringe ihn. Es ist jetzt ein Uhr. Wenn der Kutscher schnell fährt, sollte ich vor drei Uhr wieder hier sein können.«
»Unterdessen,« sagte Holmes, »will ich noch Frau Bernstone ausfragen und den indischen Diener, der, wie mir Thaddäus sagt, hier nebenan in der Kammer schläft. Auch kann ich die Methode des großen Jones studieren und seinen nicht allzu zarten Stichelreden lauschen. Ja, ja – wir sind gewohnt, ›daß die Menschen verhöhnen, was sie nicht verstehen.‹ – Goethe trifft doch immer ins Schwarze.«
7. Toby auf der Fährte.
Ich brachte Fräulein Morstan in der Droschke nach Hause, in welcher die Polizei gekommen war. Nach edler Frauen Art hatte sie alles Ungemach ertragen, so lange es galt, jemand beizustehen, der hilfloser war als sie selbst, und so hatte ich sie heiter und gelassen neben der verstörten Haushälterin gefunden. Im Wagen aber fühlte sie sich zuerst schwach und brach dann in einen Strom von Thränen aus – das Abenteuer der Nacht hatte ihre Kräfte erschöpft. Sie hat mir später gesagt, daß ich ihr bei der Fahrt kalt und zurückhaltend erschienen sei. Von dem Kampf in meiner Brust, von der Selbstüberwindung, die es mich kostete, ahnte sie nichts. Mitgefühl und Liebe stürmten auf mich ein; ich fühlte, daß Jahre des gewöhnlichen, gesellschaftlichen Verkehrs mir keinen so tiefen Einblick in ihre tapfere und dabei so echt weibliche Natur hätten gewähren können, als es dieser eine Tag mit seinen seltsamen Erlebnissen gethan. Aber kein Wort der Zuneigung kam über meine Lippen. Sie war schwach und hilflos, in Nerven und Gemüt stark erschüttert. Ihr in solchem Augenblick meine Liebe aufdringen, hieße ihren Zustand mißbrauchen. Schlimmer noch – sie war reich. Wenn Holmes’ Nachforschungen sich erfolgreich erwiesen, wurde sie eine Erbin. Wäre es rechtschaffen, wäre es ehrenhaft gewesen, wenn ein Militärarzt auf halbem Sold Vorteil aus einer Vertraulichkeit gezogen hätte, welche der Zufall veranlaßte? Müßte sie mich nicht für einen gemeinen Glücksjäger ansehen? Ich konnte den Gedanken nicht ertragen; wie eine unübersteigliche Mauer lag der Agra-Schatz zwischen uns.
Es schlug bereits zwei Uhr, als wir bei Frau Forrester anlangten. Die Dienerschaft hatte sich schon vor mehreren Stunden zurückgezogen; nur die Frau des Hauses war noch wach, Fräulein Morstans Rückkehr erwartend. Die ganze seltsame Angelegenheit hatte Frau Forrester so sehr beschäftigt, daß sie keine Ruhe fand. Sie öffnete uns selbst die Thür, und es machte mir Freude zu sehen, wie zärtlich sie den Arm um die Heimgekehrte schlang, mit wie mütterlicher Stimme sie dieselbe begrüßte. Sie war ihr offenbar keine bezahlte Untergebene, sondern eine hochgeschätzte Freundin. Frau Forrester, eine anmutige Dame in mittleren Jahren,