es nennen.«
Ein fast ärgerliches Lachen, dann Priskas Antwort: »Die Zeiten ändern sich eben, Mutter, und deine beiden jüngsten Töchter sind ein Spiegelbild dieser Veränderungen. Dorothea und Rosalie sind keinesfalls schlechter als Hermine und ich. Sie haben nur andere Zielvorstellungen. Das sollte man ruhig akzeptieren.«
Ja, ja, schon gut, denkt Mutter Bona und ist doch ein wenig getröstet. Es ist alles gut gesagt von Priska, aber nimmt ihr, der Mutter, dennoch nichts von den Sorgen um die beiden Jüngsten.
»Wann wollen die beiden denn kommen?«, fragt Priska und scheint ein wenig in Zeitbedrängnis zu sein. Dafür hat Anna Bona ein gutes Ohr.
So antwortet sie schnell: »Morgen schon, Priska. Stelle dir das vor. Schon morgen! Ich wollte es dir gleich mitteilen. Jetzt richte ich das Zimmer her. Und einkaufen muss ich auch noch.«
»Lass dir Zeit, Mutter! Ich komme morgen früh und bringe Lebensmittel mit. Du sollst dich damit nicht abschleppen. Aber nun entschuldige bitte, ich muss zur Visite.«
»Danke, Priska«, sagt Anna und fügt leiser hinzu: »Warst du bei Rosalie?«
»War ich, Mama«, gibt die Ärztin schnell und, wie es Anna Bona scheint, ausweichend zurück. »Ich will versuchen, Rosalie morgen mitzubringen.«
»Das wäre schön, Priska«, seufzt Anna Bona und legt den Hörer auf.
*
Am nächsten Morgen kommt Priska den schmalen Seeweg heraufgefahren.
Anna Bona hat sie schon erwartet und hilft wenig später beim Ausladen der vielen Tüten und des großen Korbs mit Obst und Gemüse. Das geschieht immer einmal in der Woche, denn für Anna Bona ist das Einkaufen mit einem langen, mühsamen Weg verbunden. Es gibt hier im Stillen Seewinkel längst keinen Laden mehr. Wozu auch? Die wenigen Ansiedler drüben in der Ortschaft fahren alle zum Einkaufen nach Tübingen.
»Ich habe etwas mehr eingekauft«, sagt Priska und stellt den Korb in der Küche ab. »Vielleicht kommt ja auch Hermine zum Wochenende aus München. Die Modemesse ist zu Ende gegangen, und darüber schreiben kann sie hier ungestört.«
»Sie wird schon eintrudeln«, gibt Anna Bona lachend zurück. »Ist ja immer froh, mal frische Luft zu schnuppern und ruhig zu schlafen, die Hermine.«
Auch Priska muss lachen und meint: »Ist schon eine tolle Stadt, ihr heißgeliebtes München. Eine schöne laute dazu.«
Rosalie, ihre Jüngste. Anna Bona fällt nun wieder ein, dass Priska gestern am Telefon gesagt hat, sie wolle versuchen, Rosalie heute Morgen mitzubringen. Samstag fällt der Kunstunterricht ja aus.
Da beginnt die junge Ärztin von selbst: »Rosalie lag noch im Bett, als ich vorhin bei ihr angehalten habe. Sie war gestern auf einer Fete und dementsprechend unausgeschlafen. – Aber, Mutter! Warum gleich wieder so angstvolle Augen?«
Priska legt einen Arm um die rundlichen Schultern der Mutter und fügt seufzend hinzu: »Denkst du denn, mir gefällt es, dass unsere Kleine in dieser Wohngemeinschaft lebt? Aber ich sehe keine Alternative zu dieser Art von Rosalies Drang, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Genauso verhält es sich nämlich. Die jungen Leute in der Kommune nutzen Rosalie ziemlich übel aus. Sie spielt dort das Hausmütterchen und sorgt für die ganze Clique in rührender Weise. Mich wundert nur, dass sie nebenher noch die Zeit zum Studium findet.«
Währenddessen ist Priska mit der Mutter vors Haus getreten. Sie blickt auf die nahen Apfelbäume, die wohl in den nächsten Tagen ausschlagen. Dick und prall sind die Knospen, während die Kirschen nun schon verblüht sind.
Tief atmet Priska die milde Luft ein. »Gut, dass Dorothea sich dazu entschlossen hat, zu uns zu kommen, Mutter. Und hoffentlich löst sich Hermine für ein paar Tage von ihrer Hektik in der Redaktion. Ja, ich fürchte, Mama, zum Wochenende wird’s bei dir turbulent zugehen.«
Das hört Anna Bona gern. Ihre Augen strahlen, als sie entgegnet: »Einen Lammbraten werde ich zubereiten und natürlich eine Käsetorte backen. Eure Zimmer habe ich gut durchgelüftet und die Betten frisch bezogen. Kommt nur ruhig, Mädels. Kommt heim, wann immer ihr wollt.«
*
Es ist später Nachmittag.
Dr. Priska Bona begibt sich zur letzten Visite auf die Kinderstation. Flüchtig denkt sie dabei an ihre Schwester Dorothea und den jungen Stefan Bredersen, den sie nur einmal gesehen hat. Das war am Heiligabend, als sich die beiden zu einem Besuch bei Mutter Bona befanden.
»Ach, die Frau Doktor ist bei unserer kleinen Heulliese«, sagt die Stationsschwester lächelnd, als sie die Nachtmedizin für die Kinder bringt.
»Geben Sie Melanie nicht zu viel, Schwester Alma. Wir kurieren die Infektion auch so aus«, mahnt Priska noch und erhebt sich vom Stuhl.
»Frau Doktor, ehe ich’s vergesse, Sie möchten so bald es geht ins Casino kommen, auf eine Tasse Kaffee.«
»Danke, Schwester Alma«, sagt Priska freundlich und geht hinaus. Noch zwei Zimmer, noch vier Kindern gute Nacht sagen, ein wenig Trost zusprechen. Es ist kein schwerer Fall darunter, gottlob.
Priska weiß, wer sie auf eine Tasse Kaffee ins Casino bestellt hat und freut sich darauf. Längst ist es durchgesickert, dass die Kinderärztin und den Oberarzt von der Chirurgischen mehr verbindet als nur kollegiale Freundschaft.
Aber bisher gibt es wirklich keinen Klatsch darüber, was nicht zuletzt Priskas Beliebtheit zuzuschreiben ist.
Gerade will sie den Lift hinauf ins Casino nehmen, als das Heulen des Notdienstwagens sie stoppt.
Hört sich ja an, als sei keine Zeit zu verlieren, denkt die junge Ärztin und drückt automatisch den Knopf abwärts, der sie zur Unfallstation bringt.
Dort herrscht bereits hektische Betriebsamkeit.
Und dann ist es Priska, als wankte der Boden unter ihren Füßen. Sie muss sich an die Wand lehnen, blickt starr auf eine zweite Trage. Sieht wuscheliges dunkles Haar.
Stefan hat so schöne dunkle Locken, denkt sie. Im nächsten Augenblick ist der schreckliche Albtraum vorbei. Die Verunglückten sind in die Station gebracht, nur einige Männer der Rotekreuzwagen stehen vor dem Eingang und diskutieren erregt.
Auf diese geht Priska nun zu und fragt: »Was ist passiert? Wer sind die Verunglückten?«
Sie fragt, obwohl sie die Antwort schon zu wissen glaubt. Aber kann man das Unfassbare glauben?
Was muss ich tun, hämmert es hinter ihrer Stirn, bis ein Anruf ihr die Entscheidung abnimmt.
»Frau Doktor! Bitte kommen Sie sofort in den Kreißsaal. Man verlangt nach Ihnen. Bitte fassen Sie sich.«
*
Im ältesten Stadtteil von Tübingen gibt es ein Haus, das von fünf jungen Menschen bewohnt wird.
Es ist ein schmales Haus mit einem Erkerzimmer, in dem sich an diesem Nachmittag eine Schar Studenten eingefunden hat. Es wird gefeiert, geredet, diskutiert und heftig gespöttelt über eine der ihren. Aus einem recht erfreulichen Grund übrigens, der auch den Anlass der Fete darstellt.
Einer der Studenten drückt es so aus: »Wir vier bemühen uns um den Ruhm der Ewigkeit, während sich Rosalie darum kümmert, dass wir unterdessen nicht verhungern. Seht euch also, liebe Freunde, diesen herrlichen Scheck noch einmal an, bevor wir ihn morgen zur Bank tragen und in klingende Münze verwandeln.«
»Die wir dann wiederum für Miete, Lebensmittel und sonstige längst fällige Rechnungen ausgeben!«, ruft eine Studentin lachend dazwischen.
»Immerhin sind dreitausend Euro wahnsinnig viel Geld für Rosalies Kunstwerk«, meint ein anderer trocken.
»Und vergessen wir bitte nicht, dass es eine Lebensstellung mit sich bringen könnte. Falls Rosalie ihr Kunststudium satthat und, was fatal wäre, uns dazu«, spottet ein vollbärtiger, schlaksiger Junge, der ungefähr in Rosalies Alter sein mag.
Zu alledem schweigt sie, aber ihre heitere Miene wirkt etwas