Bredersen kam nicht nach Tübingen.
Einen Tag, nachdem er von der Krankenhausverwaltung Bescheid erhielt, dass sein Sohn an den Folgen eines Verkehrsunfall verstorben sei, traf sein Verwalter in der Stadt ein, um alles Notwendige zu regeln. Stefan Bredersen würde in Schleswig-Holstein an der Seite seiner vor drei Jahren verstorbenen Mutter beigesetzt werden.
Priska hätte es gar nicht so rasch erfahren, wenn sich dieser Verwalter nicht per Telefon bei ihr gemeldet hätte, und zwar im Krankenhaus. Er bat um eine kurze Unterredung, die ihm die Ärztin natürlich gewährte.
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen mein Beileid ausdrücke«, sagt er hölzern, nachdem Priska den Aufenthaltsraum betreten und sich ihm vorgestellt hat, »zum Tod Ihrer Schwester.«
»Danke. Wären Sie Olav Bredersen, müsste ich jetzt das Gleiche zu Ihnen sagen. Da er es vorzog, nicht herzukommen, fühle ich mich davon befreit«, gibt Priska kühl zurück.
Das Gesicht des Mannes wird noch einen Schein rötlicher, und fast spürt Priska Mitleid in sich aufsteigen. Offensichtlich steht sie einem gradlinigen Menschen gegenüber, der sich in seiner Mission sehr unglücklich fühlt.
Nun winden sich seine Hände ineinander, lösen sich, um für Sekunden in den Taschen seines Sportsackos zu verschwinden. Doch ebenso rasch nimmt er sie dort wieder heraus, wobei er einen tiefen Atemzug tut, ehe er hervorstößt: »Um es kurz zu machen, Bredersen will wissen, was mit dem Kind passiert ist. Der Stefan war ja vor ein paar Wochen auf Gut Bredersen und muss dem Chef gebeichtet haben, dass seine Freundin …, ich meine Ihre Schwester …, dass Frau Bona schwanger sei. Darum also nun die Frage nach dem Kind. Sie verstehen?«
Priska beißt sich auf die Unterlippe, blickt den Mann an und gibt knapp zurück: »Kann sich das Herr Bredersen nicht denken? Was mit einem ungeborenen Kind passiert, dessen Mutter schwerste Unfallverletzungen erlitten hat, sodass sie sterben musste?«
Das sonnenverbrannte, vor Verlegenheit zusätzlich gerötete Gesicht des Verwalters wird fahl und drückt Betroffenheit aus.
Doch ungerührt fügt Priska hinzu: »Geben Sie’s Ihrem Chef genauso wieder, dann wird er wissen, woran er ist, der Olav Bredersen, der es nicht einmal für wert hielt, der schwangeren Freundin seines Sohnes auf dem Gut ein Glas Milch anzubieten. Was das gemeinsame Zimmer der beiden jungen Leute in Hamburg betrifft, so regelt meine Schwester Hermine das mit dem Hauswirt. Wir wären allerdings dankbar, wenn Sie dort abholten, was dem Stefan gehörte. Die persönliche Habe von Dorothea übernimmt meine Schwester. So ist wohl alles geklärt, denke ich. Dem Ordnungssinn Ihres Chefs ist damit Genüge getan. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe auf der Station zu tun. Gute Heimfahrt.«
Sie wendet sich ab, ohne ihm die Hand zu geben, insgeheim entsetzt über sich selbst. So hart ist sie doch sonst nicht. So unversöhnlich.
Als Priska wieder die Treppe zu ihrer Station hochsteigt, beginnt sie plötzlich zu weinen. Es sind die ersten Tränen seit dem Tode ihrer jungen Schwester.
»Frau Doktor?« Die Stationsschwester blickt sie mitfühlend an. »Warum bleiben Sie nicht einige Tage daheim? Wir schaffen es schon auf der Station.«
Priska nickt und hält ihr Taschentuch an die Wange gepresst. Sie wird heimfahren zu ihrer Mutter. Oder zu den Kindern gehen? Die Kinder gedeihen prächtig, und Olav Bredersen weiß es nicht. Er hat keine Ahnung. Gut so. Vorhin hat sie es sehr geschickt umgangen, bewusst die Unwahrheit zu sagen.
Priska fühlt sich befreit. Vielleicht auch darum, weil sie endlich weinen konnte.
Sie verlässt die Station, in der es um diese Zeit still ist, weil die kleinen Patienten Mittagsruhe haben.
Durch eine Glastür getrennt, ist im Nebentrakt die Säuglingsstation. Dorthin wendet sich die junge Ärztin, um einen Blick auf die Drillinge zu werfen.
Am Ende des langen weiß getünchten Ganges steht vor der gläsernen Trennscheibe eine schmale, kindhafte Gestalt.
»Rosalie? Was machst du denn hier?« Priska tritt an ihre Seite und blickt forschend in das Gesicht, das halb durch die Haarflut bedeckt wird.
»Mutter und Hermine kaufen Trauersachen ein«, gibt Rosalie leise zurück, »aber mir ist es schnuppe, was ich zur Beerdigung anziehe. So bin ich hierhergekommen, und die Schwester war so freundlich, mir die Kinder zu zeigen. Ach, Priska!«
Ein tiefer Atemzug, und zwei Tränen rollen über Rosalies Wangen.
»Ist ja gut, Kleines«, sagt die Ärztin und legt einen Arm um die Schultern der jüngeren Schwester. »Wir schaffen das schon mit den Kindern. Sorge dich nicht.«
Da schüttelt Rosalie heftig den Kopf. »Das tue ich auch nicht, Priska. Sorgen mache ich mir nicht. Ich bekomme mein Baby schon groß. Habe mir schon was einfallen lassen.«
Verwundert fragt Priska: »Was denn, um Himmels willen?«
Zwei Sekunden Stille, in der Rosalie den Blick auf die Kinder hinter der Glaswand gerichtet hält, dann sagt sie mit ungewohnt fester Stimme: »Als Erstes gebe ich mein Studium auf und ziehe zu Mama, wo ich auch mein Kind aufziehen werde.«
Jetzt ist Priska doch sehr betroffen. »Dein Kind? Aber Rosalie, du scheinst dich da in etwas hineinzusteigern …«
Brüsk wendet die jüngere sich zu ihr um. »Dorothea hat jeder von uns eines ihrer Kinder anvertraut und gewollt, dass es eine echte Mutter bekommt. Genau so sehe ich es, und darum ist eines der Babys dort mein Kind. Verstehst du denn nicht, Priska, worauf es ankommt?«
Natürlich versteht die Ärztin, deren Aufgabe es auch ist, in den Seelen der Menschen zu lesen. Dennoch …
»Du bist noch sehr jung, Rosalie«, sagt sie ernst und wendet sich wieder den Kindern zu. »Wenn ich recht verstehe, willst du eines der Babys aufziehen und allen Leuten klarmachen, dass du die Mutter bist. Eine junge Mami ohne Trauschein. Du hoffst, dass mit den Jahren Gras über den Tod deiner Schwester wächst, dass in Vergessenheit gerät, wer die echte Mutter deines Kindes ist. Als ob das je möglich sei. Die Behörden wissen immer Bescheid, und im Geburtsschein deines Pflegekindes wird als Mutter immer der Name deiner Schwester zu lesen sein. Das darfst du nie vergessen.«
Bei ihren letzten Worten sieht Priska mit beschwörendem Ernst in das Gesicht der jüngeren Schwester.
Doch trotzig hebt Rosalie den Kopf und gibt zurück: »Den Geburtsschein werde ich gut zu verbergen wissen, und was die Behörden in ihren Papieren stehen haben, das ist mir egal. Ich weiß natürlich, dass man mir keines der Kinder anvertrauen wird. Das geht alles von dir aus. Du hast dich bereitgefunden, dem Vormundschaftsamt das Sorgerecht anzumelden. Du und Mutter, ihr seid die offiziellen Personen, mit denen sich diese Leute über das Schicksal der drei Waisen den Kopf zerbrechen. Als ob mich dies alles interessierte.«
Fast hochmütig blickt sie an Priska vorbei auf die Kinder, von denen eines nun lauthals zu schreien beginnt. »Sieh nur, Große, diesen kleinen Schreihals hat mir seine sterbende Mutter ans Herz gelegt. Das allein ist für mich wichtig. Ich würde mein Leben für dieses Kind hergeben. Ich habe es jetzt schon sehr lieb. Darum will ich, dass es immer denkt, ich sei seine wirkliche Mutter. Du weißt doch genau …«, nun fährt sie zornig zu der jungen Ärztin herum, »wie wichtig es für ein Kind ist, eine Mutter zu haben. Keine Pflegemutter, keine Fürsorgerin, sondern etwas, womit sich ein Kind identifizieren kann. Immer hast du uns von den mutterlosen kranken Kindern vorgestöhnt, die das städtische Waisenhaus dir auf die Station legt. Die zwar körperlich heilen, deren Seelen jedoch viel kränker seien, als es den Anschein hat.«
»Wie wahr!« Priska nickt, weil ihr ein dicker Kloß im Hals steckt. Sie sieht Rosalie an und erkennt, dass ihre kleine Schwester endlich erwachsen geworden ist.
»Wir werden es richtig machen, Rosalie«, sagte sie und lächelt zum ersten Mal seit Tagen wieder wie von einer schweren Last befreit. »Den süßen Schreihals möchtest du also haben?«
Rosalie nickt mit leuchtenden Augen und gibt der Säuglingspflegerin hinter der Glaswand ein Zeichen.
Diese blickt auf das Bändchen am Handgelenk des Babys und tritt