Ernst Haeckel

Die Welträtsel


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vereinigt, des Substanzgesetzes. Indem dieses »kosmologische Grundgesetz« die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt.

      Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Übersicht über den jetzigen Stand unserer Naturerkenntnis und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, der dem Substanzgesetz ebenbürtig ist und der es ergänzt: die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwickelung« der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige »Entwickelung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Erst in seiner zweiten Hälfte gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er legte 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1790 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur »Frage aller Fragen« geschenkt, zu dem großen Welträtsel von der »Stellung des Menschen in der Natur« und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute imstande sind, die Herrschaft des Entwickelungsgesetzes im Gesamtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanzgesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen, weitblickenden Naturphilosophen, drei Sternen erster Größe unter allen anderen großen Männern des neunzehnten Jahrhunderts.

      Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Naturerkenntnis entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im »Zeitalter des Verkehrs« stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den Fortschritten der technischen Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektrizität. Wenn wir durch die Photographie das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medizin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serumtherapie die Leiden der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Durch diese und andere Erfindungen der Technik haben wir alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt.

      Fortschritte der sozialen Einrichtungen. So dürfen wir heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Naturerkenntnis und deren praktische Verwertung zurückblicken. Leider bietet sich uns ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir andere, nicht minder wichtige Gebiete des modernen Kulturlebens ins Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir da den Satz von Alfred Wallace unterschreiben: »Verglichen mit unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der administrativen Justiz, der Nationalerziehung und unsere ganze soziale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei.« Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick in unser öffentliches Leben zu werfen, oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

      Unsere Rechtspflege. Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem »Fundamentum regnorum«. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntnis des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urteilen lesen, welche dem gesunden Menschenverstand widersprechen; viele Entscheidungen unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der auf Papier gedruckten Verfassung — noch tatsächlich der Absolutismus herrscht und daß manche »Männer des Rechts« nicht nach ehrlicher Überzeugung urteilen, sondern entsprechend dem »höheren Wunsche von maßgebender Stelle«. Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urteilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrtümer durch mangelhafte Vorbildung und durch die veraltete Gesetzgebung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen; gerade sie werden bei der Besetzung der verschiedensten Ämter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte »juristische Bildung« ist größtenteils eine rein formale, keine reale. Den menschlichen Organismus und seine wichtigste Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z. B. die wunderlichen Ansichten über »Willensfreiheit, Verantwortung« usw., denen wir täglich begegnen. Den meisten Studierenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwickelungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurteilung des Menschenwesens. Freilich bleibt dazu auch »keine Zeit«; diese wird leider nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch genommen, sowie das »veredelnde« Mensurenwesen; der Rest der kostbaren Studienzeit aber ist notwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntnis den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kulturstaate befähigt.

      Unsere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen. Die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens sind ja allbekannt und jedermann täglich fühlbar. Zum großen Teile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von hoher formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntnis der Menschennatur, die nur durch vergleichende Anthropologie und Psychologie erworben werden kann. »Bau und Leben des sozialen Körpers«, d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntnis vom »Bau und Leben« der Personen besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn unsere »Staatslenker« und »Volksvertreter« diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse besäßen, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von soziologischen Irrtümern und von politischer Kannegießerei zu lesen sein, welche unsere Parlamentsberichte und auch viele Regierungserlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen. Am meisten zu beklagen ist es, daß der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und daß der bornierte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dadurch entstehen so traurige Bilder, wie sie uns am Schlusse des 19. Jahrhunderts der Deutsche Reichstag vor Augen führte: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Zentrums, unter der Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? Soll er theokratisch, durch unvernünftige Glaubenssätze und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch, durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden?

      Unsere Schule. Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staatsordnung entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Naturwissenschaft, die alle anderen Wissenschaften so weit überflügelt