Gelobt sei Gott der Rächer; … ich will vergelten, spricht der Herr!«
Sie stürzte neben dem fremden Manne, dessen Haupt in meinem Schoß lag, auf die Knie nieder. Mit unsanfter Hand warf sie ihm die grauen wirren Haare aus der Stirn und blickte ihm starr in die Augen, die er eben öffnete und wirr umhergehen ließ im Kreise.
»Er ist es, er ist es, o heiliger Gott, wie ein Hund liegt er hier an der Landstraße – kennt Ihr ihn? kennt Ihr ihn? seht ihn an – ha ha, er, ein deutscher Edelmann, welcher die französischen Häscher auf den Trautenstein führte. Denk an Konrad Wolf, Du falscher, falscher Verräter! Seht alle, alle, alle, das ist er, – das ist der elende Mann, welcher seines Landes treuestes Blut an die Franzosen verkaufte, – das ist der Herr von Rhoda!«
Wir wußten alle, wen die Susanne in dem fremden Mann erkannt, nun sie aber seinen Namen in die Nacht hinein ausrief, ging es doch wie ein elektrischer Schlag jedem durch alle Glieder. Ohnmächtig lag Anna von Rhoda in meinen Armen.
Ein Murren des Zornes ging von den jüngeren Männern aus, Verwünschungen und Flüche wurden laut. Die älteren Männer jedoch, vor allen der Leutnant und der Vetter Kaltenborn, suchten den Zorn der anderen zu beschwören, suchten die wilde Susanne zu beruhigen.
Der Förster suchte das Mädchen empor zu ziehen.
»Nein, nein, Susanne: so geht das nicht; – steh auf, Dirne, ich will das nicht leiden. Du magst recht haben, es ist der Herr von Rhoda; aber Du sollst ihn nicht töten durch Dein Geschrei. Steh auf, Dirne, und wenn er den ganzen Trautenstein, mit allem was drum und dran hängt, an die Wälschen verkauft hätte, so wollt ich doch nicht solch Wesen um ihn dulden, und ihn jetzt umkommen lassen hier im Graben.«
»Ja, steht auf, Susanne,« sagte der Leutnant. »Seid ein gutes Mädchen und denkt an Eueren Katechismus; Ihr Frauensleute sprecht ihr doch zu, – daß ist ja ein unchristlich Gebahren!«
Die Weiber vom Trautenstein wichen alle zurück und murmelten: »Sie ist in ihrem Recht; er hat ihr ihren Liebsten erschießen lassen unter dem Galgen.«
»Und ich sage, sie soll ihn jetzt lassen; oder ich thue gegen sie, was mich nachher gereut!« schrie wild der Förster Kaltenborn, mit dem Fuße aufstampfend. »Seht, er liegt wieder wie ein Toter und kann uns unter den Händen sterben; man soll vom Vetter Kaltenborn nicht sagen, daß eine Menschenkreatur vor seiner Thür ohne Hilfe umgekommen sei. Wer von euch Burschen will helfen den Mann zum Trautenstein zu tragen?«
Alle die jungen Leute schwiegen finster.
»Nun bei Gott, seht das Volk!« rief der Förster. »Keiner von ihnen hat unterm Feuer gestanden, keiner hat eine Büchse losgebrannt gegen den Feind, jeder trägt seinen Pack Sünden und Laster aufgehuckt und will doch hier den Zimperlichen spielen. Also – Ihr da von der Legion, Vetter Bart, Ihr von den Freiwilligen, junger Herr (dies galt mir) und ich von der Linie, so wollen wir das barmherzige Werk thun. Faßt an, pack Dich, Mädchen, gieb Raum, – packt an, Vetter Bart.«
»Mein Vater! mein Vater!« kreischte das arme Ännchen, jetzt wieder zum Bewußtsein kommend. Im Weinkrampf sank sie nieder auf die Brust des unglücklichen Mannes, der ihr Vater war.
Alle standen von neuem starr und lautlos.
»Ihr Vater? ihr Vater?!« ging es durch den Kreis. »Der Herr von Rhoda des Ännchens Vater?!«
»Ja, ja, es ist so!« rief der Leutnant, neben seinem Pflegekinde niederkniend. »Das ist das Ännchen von Rhoda, das ich gefunden habe auf dem Schlachtfeld von Talavera.« Die Frauen schlugen die Hände über den Köpfen zusammen, die Männer schüttelten die Köpfe. Der Förster war der erste, der seiner Sinne mächtig wurde.
»Nehmt das Fräulein in den Arm,« flüsterte er mir zu; »wir anderen wollen den Hauptmann tragen. Was ist das für eine Geschichte! Fort zum Trautenstein.«
Die neue Enthüllung hatte auf die Gemüter der Leute Einfluß gehabt; willfährig boten alle jungen Burschen ihre Hilfe an. Sanft wurde der Hauptmann vom Boden aufgehoben und nach dem Trautenstein getragen, wo man ihm schnell ein Lager bereitete. Ich trug die arme Annie, und stumm hielt sich Susanne Reußner auf dem ganzen Wege an meiner Seite. –
Zehnter Brief.
Sachsenhagen, am 1. September 1816.
Ich halte wieder Schule, Sever, und sende Dir jetzt mein Tagebuch aus dem Walde mit diesem Briefe, welcher den Schluß enthält, den Schluß von alle dem, was tief im Walde sich erfüllen sollte.
Auf der gewohnten Bank in der Schmiede sitzt mit der kurzen Pfeife der Leutnant der Legion, Wolfgang Bart, neben ihm lehnt das bleiche Ännchen im schwarzen Trauerkleide. Lustig klingen nach gewohnter Weise die Hämmer des Meister Schmieds und des Braunschweigers. In den Gassen, in den Häusern von Sachsenhagen ist alles beim Alten. Auf dem Platze vor meinem Fenster treiben die Knaben ihre Spiele, und hell dringen ihre fröhlichen Stimmen zu mir herauf.
Meine Frau Rektorin hat heute ihre Kaffeegesellschaft; ich sehe die bekannten Damen – alt und jung – mit ihren Strickbeuteln über den Schulplatz trippeln; in den Kastanienbäumen zwitschern die Sperlinge; der Kollege Quartus tritt seinen Nachmittagsspaziergang an und geht auf die Jagd nach Käfern und Pflanzen. Er nickt und winkt mir zu, und ich nicke und winke wieder.
Das Alltagsleben geht seinen gewohnten Gang; aber in das Alltagsleben hinein blicken aus der duftigen herbstlichen Ferne die blauen Berge, und diese blauen Berge sind es, welche machen, daß ich noch immer in dem gewohnten Leben gleich einem Träumenden umgehe. Blicke ich von meinem Pult in meinem Schulzimmer jetzt zu ihnen hinüber, so ist es nicht bloß die gewohnte Sehnsucht des Menschen nach der schimmernden Ferne, welche mein Herz füllt. Ein tieferes Gefühl bewegt mich; halb Grauen, halb Entzücken.
Was habe ich in jenen Bergen durchlebt!
In den holdesten, süß-schmerzlichen Traum der Liebe drängt sich die ganze Not und Schmach des Vaterlandes. Meine Liebe habe ich geborgen in dem Gewühl; – es liegt ein Grab in den Bergen! Mein übervolles Herz möcht ich jauchzend der Sonne entgegenhalten; – es liegt ein Grab in den Bergen!
Ich will da wieder anfangen mit meinem Bericht, wo mein Tagebuch zu Ende geht.
Wir trugen den Herrn von Rhoda zum Trautenstein und legten ihn auf einem schnell bereiteten Lager nieder. Was an Hausmitteln vorhanden war, wurde angewandt, den Bewußtlosen wieder ins Leben zurückzurufen. Ein reitender Bote wurde sogleich an den nächsten Landphysikus abgesendet; doch konnte dieser erst am nächsten Morgen eintreffen. Durch keine Bitten konnte Anna von Rhoda vermocht werden, von dem Bette ihres Vaters zu weichen, mit ihr wachte ich die ganze Nacht durch neben dem Kranken.
O diese Nacht! Diese schreckliche, diese süße Nacht! Ich hatte die Hand des Ännchens genommen und sie ließ sie mir ohne Widerstreben. Sie lehnte den Kopf an meine Brust, und mein Arm schlang sich um ihren Leib. So saßen wir und horchten den schweren Atemzügen des unglücklichen Mannes.
In dieser Nacht haben wir uns einander im Geist verlobt für alle Zeiten. Kein Wort brauchte eins von uns beiden dabei zu sprechen.
In dieser Nacht ist das Ännchen meine Braut geworden, Sever! –
Gegen zwei Uhr regte sich der Kranke, stöhnte und öffnete die Augen. Mit mehr Kraft, als ich erwartet hätte, richtete er sich plötzlich in die Höhe und blickte um sich herum und blickte auf das Ännchen und mich.
Er hatte sein Bewußtsein vollständig wieder gefunden und fragte verständlich, wenn auch mit recht schwacher Stimme, wo er sich befinde.
Es war das erstemal, daß er sprach und, o, wie Anna von Rhoda beim Klange dieser matten Stimme zusammenfuhr! Sie hatte ja diese Stimme nicht wiedergehört, seit die Garde des Königs Joseph bei Talavera de la Reyna in die Schlachtlinie eingerückt war.
Unfähig zu reden, barg die Tochter das Gesicht in der Bettdecke des kranken Vaters, der seine Frage wiederholte.