Hubert Haensel

Perry Rhodan Neo Paket 1: Vision Terrania


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keine Zeit für Erklärungen. Die Polizei hat einen Durchsuchungsbefehl. Ich habe eine Viertelstunde herausgehandelt, in der wir Sid finden können, dann kommen sie in den Shelter und holen ihn.«

      Einige der Kinder japsten, ein Mädchen hoch oben auf der Treppe fing an, leise zu weinen.

      »Wo steckt er?«, fragte Marshall.

      Niemand gab Antwort. Sue sagte: »Er war heute Morgen beim Frühstück, dann ist er auf sein Zimmer, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

      »War er in der Werkstatt?«

      »Um seinen Raumschrott loszuschlagen?« Sue hielt nichts von Sids Lieblingsbeschäftigungen. »Nein. Nevada muss ihm auf den Magen geschlagen haben. Er hat kaum was gegessen. Wahrscheinlich liegt er im Bett und träumt von Aliens, die ihn entführen und endlich aus diesem Irrenhaus hier rausholen.«

      Marshall ignorierte die Spitze. Sue war zuweilen unheimlich erwachsen, aber sie war auch ein gewöhnliches Kind und damit jederzeit bereit, grausame Bemerkungen über andere Kinder zu machen. »Was ist mit dem Rest?«, fragte er lauter. »Hat jemand von euch Sid nach dem Frühstück gesehen?«

      Die Kinder schüttelten den Kopf.

      »Also gut. Wir suchen das ganze Haus von oben nach unten ab.« Marshall wandte sich an die beiden Zwillinge, die unmittelbar hinter Sue gewartet hatten. »Tyler, Damon, ihr zwei bleibt an den Ausgängen, damit Sid sich nicht davonmacht!«

      Die Zwillinge nickten. Sie sahen Marshall nicht an. Tyler und Damon fürchteten wie die übrigen Kinder die Polizei. Mit einem Unterschied: Sie fürchteten und hassten sie.

      »Los jetzt!«, rief Marshall. »Worauf wartet ihr noch?«

      Die Kinder schreckten hoch und huschten die Treppe hinauf, als handele es sich um ein Wettrennen. Die Zwillinge blieben zurück. Tyler ging an die Tür, kniete vor dem Briefkastenschlitz, hob die Klappe an und spähte nach draußen. Seine freie Hand hatte sich um den Heiligen Christophorus geschlossen. Damon ging wortlos zum Hinterausgang.

      Marshall hatte kein gutes Gefühl, die beiden allein zu lassen. Andererseits hatte er ihnen damit eine Aufgabe gegeben, die sie von den anderen Kindern abhob und hoffentlich genug beschäftigte, um sich nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen zu lassen.

      Wenn auch eine sinnlose Aufgabe. Wie immer es Sid anstellte, er vermochte das Unmögliche. In Nevada Fields in den abgesperrten Bereich am Startturm zu schleichen, in einen Banktresor ein- und wieder auszubrechen. Wer oder was sollte Sid aufhalten?

      Und, selbst wenn sie den Jungen fanden und zu fassen bekamen, was dann? Marshall hatte nicht die geringste Ahnung, was er mit Sid anstellen sollte. Ihn der Polizei ausliefern? Unvorstellbar. Texanisches Recht war nicht zimperlich, auch nicht bei Jugendlichen. Sid würde für Jahre ins Gefängnis gehen.

      Für einen versuchten Bankraub, den er, John Marshall, zu verantworten hatte.

      Er hätte seine Sorgen nicht bei Sid abladen dürfen. Sid war nur ein Kind. Auf die Eröffnung, dass die Stiftung Geldschwierigkeiten hatte, hatte er nur auf eine Weise reagieren können: Er musste versuchen, Geld aufzutreiben. Und wo gab es Geld? Natürlich bei einer Bank.

      Doch Marshalls Reue kam zu spät. Es war geschehen, was geschehen war. Marshall blieb nur noch, Sid schnell zu finden und auf ein Wunder zu hoffen. Er klammerte sich an diesen Gedanken. Ein Wunder, ja. War dieser Homer Adams nicht ein Wunder, das aus dem Nichts gekommen war? Vielleicht gab es eine ganz einfache Erklärung. So simpel, dass alle sie übersehen hatten. Oder Deborah bekam es hin, Sid loszueisen. Die Polizistin war findig. Man durfte sie nicht unterschätzen.

      Der oberste Stock war rasch durchsucht. Es gab nur zwei Zimmer, das Sids und das Johns. Sie waren verlassen. Blieben die Flächen unter der Dachschräge, die sie als Speicher nutzten. Sue, die so wendig war, dass eine Schlange sich vor Neid geringelt hätte, arbeitete sich durch das Gerümpel. Als sie wieder zum Vorschein kam, war ihr Kostüm schmutzig und an ihrem verkrüppelten Arm aufgerissen. Rote, entzündete Haut lugte hervor.

      Sue schien es nicht zu bemerken. »Hier ist er nicht!«, keuchte sie.

      Der zweite Stock. Überall waren Kinder, räumten die Schränke aus, krochen unter die Betten, in verborgene Ecken.

      Kein Sid.

      Sue kam zu Marshall gerannt, griff nach seinem Handgelenk und zog ihn zu sich herunter. »John«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Geh zum Fenster! Unauffällig!«

      Marshall wartete einige Augenblicke, bevor er wie beiläufig zu dem bodentiefen Fenster ging, das zur Straße wies. Ein zweiter Streifenwagen war eingetroffen. Deborah stand an der Fahrertür und gestikulierte mit ihren fleischigen Armen. Marshall war zu weit weg, um zu hören, was sie sagte. Doch er spürte, um was es ging: Deborah wollte den Wagen wegschicken. Sie wusste um die Angst der Kinder und versuchte zu verhindern, dass die Situation eskalierte.

      Sue stellte sich neben Marshall, lehnte sich an ihn. Sie zitterte. Marshall spürte ihren Puls pochen. Er war atemlos.

      »Hab keine Angst.« Er nahm sie vorsichtig in den Arm. »Die Polizei tut uns nichts. Sie hat keinen Grund. Wir haben nichts Böses getan.«

      Sue versteifte sich, sah ihn an. Ihr Blick war plötzlich hart, gehörte einer Erwachsenen. Einer Erwachsenen, die zu viel durchgemacht hatte, um sich Sentimentalitäten hinzugeben. »Das glaubst du doch selbst nicht, oder?«

      Sue machte sich los und rannte weiter.

      Der erste Stock. Noch sechs Minuten. Draußen fuhren weitere Streifenwagen vor. Marshall zählte acht Fahrzeuge. Polizisten stiegen aus. Sie trugen ohne Ausnahme Körperpanzer, hatten die Visiere heruntergeklappt. Die Polizisten erinnerten Marshall an die Kampfroboter aus Sids Geschichten.

      Kein Sid im ersten Stock.

      Sue drückte sich an Marshall vorbei, um ins Erdgeschoss zu rennen.

      Vor dem Zimmer der Zwillinge hielt sie an, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. »Tyler, was machst du da?«, schrie sie schrill. »Nein! Nicht!«

      Im nächsten Moment knallte der Schuss.

      Ein stechender Schmerz fuhr in Marshalls Brust, ließ ihn aufschreien. Der Stich wurde größer, brannte wie Feuer. Marshall spürte, wie Blut aus der Wunde strömte, sein Herz es in einem harten Takt pumpte. Die Beine gaben unter ihm nach, als hätte ein Knüppel sie ihm weggeschlagen. Hart kam er auf dem Boden auf. Er stank nach Schimmel. Und nach heißem Asphalt, weich gebacken von der Junisonne.

      Eine Handbreit trennte seinen Kopf von der Scheibe des Fensters.

      Auf der Straße rannten die Polizisten zu ihren Fahrzeugen. Das Licht der tief stehenden Sonne glitzerte auf ihren Körperpanzern, ließ sie wie Maschinen erscheinen.

      Ein einzelner Mensch blieb zurück.

      Eine übergewichtige Schwarze in einer altmodischen Uniform aus Baumwolle. Einem Stoff, viel zu schwer für die Hitze des texanischen Sommers. Einem Blatt Papier für eine Kugel.

      Blut quoll im harten Rhythmus des rasenden Herzens aus ihrer Brust, tränkte die Uniform, bildete eine Pfütze auf dem Asphalt.

      Deborah.

      Sie starb.

      John Marshall starb mit ihr.

      15.

      Rhodan antwortete nicht. Er nickte und schickte sich an, der Aufforderung Crests zu folgen und die Kabine zu verlassen.

      »Nicht so hastig.« Bull versperrte dem Freund den Weg. »Wohin wollen Sie uns bringen, Crest?«

      Der alte Arkonide musterte Bull mit einem Blick, in dem Rhodan Mitleid zu lesen glaubte. Und, so widersinnig es auch erschien, Verständnis.

      »Ich bitte Sie«, sagte Crest leise. »Machen Sie die Angelegenheit nicht noch unangenehmer, als sie es ohnehin schon ist.«

      »Die Angelegenheit? Sie ...«

      Crest trat zur Seite, gab den