und des äußern Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist, auf Rechnung solcher Übungen gesetzt werden darf. Wie sie älter wurden, ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber sie behielten den Sinn für das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei. Würde man heutzutage fragen, wo sie denn die Zeit zu alledem hergenommen haben, ohne ihre Arbeit und ihr Haus zu vernachlässigen so wäre zu antworten, daß es erstens noch gesunde und naive Männer und keine Grübler waren, welche zu jeder Tat und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz von Zeit verschwenden mußten, indem sie alles zerfaserten und breitquetschten, ehe es genießbar war, und daß zweitens die täglichen Stunden von sieben bis zehn Uhr abends, gleichmäßig benutzt, eine viel ansehnlichere Masse von Zeit ausmachen, als der Bürger heute glaubt, welcher dieselben hinter dem Weinglase im Tabaksqualm verbrütet. Man war damals noch nicht einer Rotte von Schenkwirten tributpflichtig, sondern zog es vor, im Herbste das edle Gewächs selbst einzukellern, und es war keiner dieser Handwerker, vermöglich oder arm, der sich nicht geschämt hätte, am Schlusse der abendlichen Zusammenkünfte ein Glas derben Tischweines mangeln zu lassen oder denselben aus der Schenke holen zu müssen. Während des Tages sah man keinen, oder höchstens flüchtig und heimlich, vor den Gesellen es verbergend, ein Buch oder eine Papierrolle in die Werkstatt eines andern bringen, und sie sahen alsdann aus wie Schulknaben, welche unter dem Tische den Plan zu einer rühmlichen Kriegsunternehmung zirkulieren lassen.
Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen. Lee hatte sich, bei seinen gehäuften Arbeiten in steter Anstrengung, eines Tages stark erhitzt und achtlos nachher erkältet, was den Keim gefährlicher Krankheit in ihn legte. Anstatt sich nun zu schonen und auf jede Weise in acht zu nehmen, konnte er es nicht lassen, sein Treiben fortzusetzen und überall mit Hand anzulegen, wo etwas zu tun war. Schon seine vielfältigen Berufsgeschäfte nahmen seine volle Tätigkeit in Anspruch, welche er nicht plötzlich schwächen zu dürfen glaubte. Er rechnete, spekulierte, schloß Verträge, ging weit über Land, um Einkäufe zu besorgen, war im gleichen Augenblick zuoberst auf den Gerüsten und zuunterst in den Gewölben, riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und tat einige gewichtige Würfe damit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine mächtige Steinlast herumwälzen zu helfen, hob, wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbeikamen, selbst einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und statt dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgendeinem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in später Nacht ganz umgewandelt auf den Brettern, leidenschaftlich erregt, mit hohen Idealen in einem mühsamen Ringen begriffen, welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte als die Tagesarbeit. Das Ende war, daß er plötzlich dahinstarb als ein junger, blühender Mann, in einem Alter, wo andere ihre Lebensarbeit erst beginnen, mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen, welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte. Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde allein zurück, und dies Kind bin ich.
Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an als das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht nach meinem Vater erfüllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarerweise um ein volles Jahr vor seinen Tod zurück, auf einen einzelnen schönen Augenblick, wo er an einem Sonntagabend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte, schon bestrebt, Erkenntnis und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken. Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen, in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg, die er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter rühmte mir nachher oft, wie sehr sie und die begleitende Magd erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden. Aus noch früheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremdliche Überraschung der vollen Waffenrüstung, in welcher er eines Morgens Abschied nahm, um mehrtägigen Übungen beizuwohnen; da er ein Schütze war, so ist auch dies Bild mit der lieben grünen Farbe und mit heiterm Metallglanze für mich ein und dasselbe geworden. Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verworrenen Eindruck behalten, und besonders seine Gesichtszüge sind mir nicht mehr erinnerlich.
Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch an ihren ungeratensten Kindern hangen und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können, so finde ich es höchst unnatürlich, wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und preisgeben, weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben, und ich preise die Liebe eines Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und verleugnet, und begreife das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter, welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schafotte beisteht. Ich weiß daher nicht, ob es aristokratisch genannt werden kann, wenn ich mich doppelt glücklich fühle, von ehrlichen und geachteten Eltern abzustammen, und wenn ich vor Freude errötete, als ich, herangewachsen, zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte ausübte in bewegter Zeit und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat, mir die Hand schüttelte und sagte, er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich, mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen; als dann noch mehrere kamen und jeder den »Mann« gekannt haben und hoffen wollte, ich werde ihm würdig nachfolgen. Ich kann mich nicht enthalten, sosehr ich die Torheit einsehe, oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekommen wäre, wenn mein Vater gelebt hätte, und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre; jeden Tag hätte mich der treffliche Mann weitergeführt und würde seine zweite Jugend in mir verlebt haben. Wie mir das Zusammenleben zwischen Brüdern ebenso fremd als beneidenswert ist und ich nicht begreife, wie solche meistens auseinanderweichen und ihre Freundschaft außerwärts suchen, so erscheint mir auch, ungeachtet ich es täglich sehe, das Verhältnis zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer, unbegreiflicher und glückseliger, als ich Mühe habe, mir dasselbe auszumalen und das nie Erlebte zu vergegenwärtigen.
So aber muß ich mich darauf beschränken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksal entgegenschreite, mich, zusammenzufassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken: Wie würde er nun an deiner Stelle handeln, oder was würde er von deinem Tun urteilen, wenn er lebte. Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur, deren Anfang niemand kennt, in meinen schwachen Händen zurückgelassen, und es bleibt mir nur übrig, sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. – Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenräumen, wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der teure Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene.
Je dunkler die Ahnung ist, welche ich von seiner äußeren Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut, und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden, auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube.
Drittes Kapitel.
Kindheit. Erste Theologie. Schulbänklein
Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Witwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge. Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen, um sie ins reine zu bringen. Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen, Unternehmungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden; Vorräte von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden, und es war zweifelhaft, ob bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde, wovon die bekümmerte Frau leben sollte. Gerichtsmänner kamen, legten Siegel an und lösten sie wieder; die Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu, halfen und ordneten; es wurde durchgesehen, gerechnet, abgesondert,