Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski


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unsere alten Papiere durchgesehen. So saß er in tiefem Ernst da. Ich strickte einen Strumpf und sah meinen Mann gar nicht an, vor Furcht. Als er merkte, daß ich nichts sagte, wurde er ärgerlich und redete mich selbst an und erklärte mir den ganzen Abend über unseren Stammbaum. Es ergab sich dabei, daß wir, die Ichmenews, schon unter der Regierung Iwan Wassiljewitschs des Schrecklichen Edelleute waren und daß meine Familie, die Schumilows, schon unter der Regierung Alexei Michailowitschs in Ansehen stand; wir haben Dokumente darüber, und es ist auch in Karamsins russischer Geschichte erwähnt. Also sind wir in dieser Hinsicht nicht schlechter als andere Leute, lieber Freund. Als mein Mann anfing, mir das auseinanderzusetzen, da begriff ich gleich, was ihm im Kopf steckte. Es war ihm nämlich kränkend, daß Natascha als minder vornehm angesehen wurde. Nur durch ihren Reichtum ist uns die andere über. Na, mag dieser schändliche Mensch, Fürst Pjotr Alexandrowitsch, nach Reichtum trachten; das ist ja allgemein bekannt, daß er ein hartes, habsüchtiges Herz hat. Es heißt, er sei in Warschau heimlich Jesuit geworden; ob das wohl wahr ist?«

      »Ein törichtes Gerücht!« erwiderte ich; aber es interessierte mich unwillkürlich, daß sich dieses Gerücht so hartnäckig hielt.

      Aber die Nachricht, daß Nikolai Sergejewitsch seine alten Papiere durchgesehen hatte, erregte meine Aufmerksamkeit. Früher hatte er sich niemals seines Stammbaumes gerühmt.

      »Es sind alles hartherzige Bösewichter!« fuhr Anna Andrejewna fort. »Nun, was macht denn mein liebes Kind, grämt sie sich, weint sie? Ach, es wird Zeit, daß du zu ihr gehst! Matrjona, Matrjona! Bist du eine nachlässige Person! Haben sie sie auch nicht gekränkt? So sprich doch, Wanja!«

      Was sollte ich ihr antworten? Die alte Frau fing an zu weinen. Ich fragte sie, was sie noch für ein Unglück gehabt habe, von dem sie mir vorhin habe Mitteilung machen wollen.

      »Ach, lieber Freund, es ist an dem bisherigen Unglück noch nicht genug gewesen; wir haben offenbar den Becher noch nicht ganz geleert! Du erinnerst dich vielleicht, lieber Wanja, ich hatte ein goldenes Medaillon, ein Souvenir, und darin war ein Bild Nataschas aus ihrer Kinderzeit; acht Jahre war sie damals alt, mein Engelchen. Nikolai Sergejewitsch und ich hatten es von einem durchreisenden Maler machen lassen; du hast das gewiß vergessen, Wanjuscha. Es war ein tüchtiger Künstler; er hatte sie als Amor dargestellt: sie hatte damals so schönes, helles, lockiges Haar; in einem Musselinhemdchen hatte er sie gemalt, so daß das Körperchen durchschimmerte, und sie sah auf dem Bild so hübsch aus, daß ich ‘ mich gar nicht daran satt sehen konnte. Ich bat den Maler, ihr auch Flügelchen zu malen, aber das wollte er nicht. Also, lieber Freund, nach unseren damaligen schrecklichen Erlebnissen nahm ich das Medaillon aus der Schatulle heraus und hängte es mir an einem Schnürchen auf die Brust; so trug ich es neben meinem Taufkreuz und fürchtete immer, mein Mann könnte es einmal zu sehen bekommen. Er hatte ja gleich damals befohlen, wir sollten alle ihre Sachen aus dem Haus schaffen oder verbrennen, damit nichts dabliebe, was uns an sie erinnern könnte. Mir aber war es ein Trost, auch nur ihr Bild anzusehen; oft fing ich bei dem Anblick an zu weinen; aber es wurde mir doch leichter ums Herz; und manchmal, wenn ich allein war, konnte ich mich gar nicht satt daran küssen, als ob ich sie selbst küßte; ich gab ihr zärtliche Namen und bekreuzte sie auch jedesmal zur Nacht. Ich redete mit ihr laut, wenn ich allein war, und fragte sie allerlei und stellte mir vor, daß sie mir darauf antwortete, und fragte dann weiter. Ach, Wanjuschka, es macht einen traurig, auch nur davon zu erzählen! Na, ich war nur froh, daß er wenigstens von dem Medaillon nichts wußte und nichts gemerkt hatte; aber auf einmal, gestern früh, war das Medaillon weg, und es hing nur das Schnürchen da; dieses hatte sich jedenfalls durchgescheuert, und da hatte ich das Medaillon verloren. Ich wurde ganz starr vor Schreck. Nun hieß es suchen: ich suchte und suchte – nichts zu finden! Es war verloren und verschwunden! Aber wo konnte ich es verloren haben? »Wahrscheinlich«, dachte ich, »im Bett«; ich durchwühlte das ganze Bett – nichts da! Wenn es losgerissen und irgendwohin gefallen war, dann hatte es wohl jemand gefunden; aber wer konnte es gefunden haben außer meinem Mann und Matrjona? Na, an Matrjona war überhaupt nicht zu denken; die ist mir mit ganzer Seele ergeben… (Matrjona, bringst du nicht bald den Samowar?) »Na«, dachte ich, »wenn er es nun findet, was wird dann geschehen?« Ich saß still da und grämte mich und weinte; ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Aber Nikolai Sergejewitsch wurde immer freundlicher und freundlicher gegen mich; er sah mich betrübt an, als ob er wüßte, weshalb ich weinte, und mit mir Mitleid hätte. Da dachte ich bei mir: »Woher kann er es wissen? Hat er das Medaillon vielleicht wirklich gefunden und aus dem Fenster geworfen? Denn in seinem Zorn ist er dessen fähig; er hat es hinausgeworfen und grämt sich nun selbst; er bereut, daß er es getan hat.« Ich ging sogar mit Matrjona hinaus, und wir suchten unter dem Fenster; aber wir fanden nichts. Das Medaillon war wie von der Erde verschwunden. Ich habe die ganze Nacht hindurch geweint. Zum erstenmal konnte ich Natascha nicht zur Nacht bekreuzen. Ach, das bedeutet etwas Schlimmes, das bedeutet etwas Schlimmes, Iwan Petrowitsch, das ist keine gute Vorbedeutung; nun weine ich schon den zweiten Tag, ohne mir je die Augen zu trocknen. Ich habe auf dich gewartet, lieber Freund, wie auf einen Engel Gottes: ich kann mir wenigstens das Herz erleichtern …« Und die alte Frau brach in bittere Tränen aus. »Ach ja, das habe ich noch vergessen, dich zu fragen,« sagte sie auf einmal, erfreut, daß es ihr noch eingefallen war; »hat er dir etwas von einer Waise gesagt?« »Ja, Anna Andrejewna, er sagte zu mir, Sie beide wären nach längerem Überlegen übereingekommen, ein armes Waisenmädchen zur Erziehung anzunehmen. Ist das richtig?«

      »Ist mir nicht eingefallen, lieber Freund, ist mir nicht eingefallen! Ich will keine Waise haben! Sie würde mich nur an unser trauriges Schicksal, an unser Unglück erinnern. Außer Natascha will ich niemand haben. Sie war unsere einzige Tochter und wird immer unsere einzige Tochter bleiben. Aber was hat das nur zu bedeuten, lieber Freund, daß er auf die Annahme einer Waise verfallen ist? Wie faßt du das auf, Iwan Petrowitsch? Wollte er mich damit trösten, weil er meine Tränen sah, oder wollte er dadurch seine leibliche Tochter ganz aus seinem Gedächtnis vertreiben und seine Zuneigung einem anderen Kind zuwenden? Was hat er dir unterwegs von mir gesagt? Wie ist er dir vorgekommen – finster, zornig? Pst! Er kommt! Sag es mir ein andermal, lieber Freund, ein andermal!… Vergiß nicht, morgen herzukommen…«

      Dreizehntes Kapitel

      Der Alte trat ein. Neugierig, und als ob er sich über etwas schämte, sah er uns an, machte dann ein finsteres Gesicht und trat an den Tisch.

      »Wie ist’s mit dem Samowar?« fragte er. »Konnte der denn noch nicht gebracht werden?«

      »Da kommt er schon, Heber Mann, da kommt er; na, siehst du, da ist er schon!« erwiderte Anna Andrejewna und machte sich eifrig mit dem Teetisch zu schaffen.

      Matrjona war, sowie sie den Hausherrn erblickt hatte, sofort mit dem Samowar erschienen, als ob sie nur auf seinen Eintritt gewartet hätte, um ihn zu bringen. Es war dies eine alte, erprobte, ergebene Dienerin, aber die eigenwilligste, brummigste von allen Dienerinnen auf der Welt, mit einem hartnäckigen, störrischen Charakter. Vor Nikolai Sergejewitsch hatte sie Furcht und hielt in seiner Anwesenheit immer ihre Zunge im Zaum. Dafür hielt sie sich vollauf an Anna Andrejewna schadlos, benahm sich fortwährend grob gegen sie und erhob offenkundig den Anspruch, über ihre Herrin zu herrschen, obwohl sie gleichzeitig sie und Natascha aufrichtig und von Herzen liebte. Diese Matrjona kannte ich schon von Ichmenewka her.

      »Hm!… Das ist doch unangenehm, wenn man durchnäßt nach Hause kommt und sie nicht einmal so freundlich gewesen sind, Tee für einen bereitzuhalten«, brummte der Alte halblaut.

      Anna Andrejewna blinzelte mir mit Bezug auf ihn sogleich zu. Er konnte solche geheimen Blicke nicht leiden, und obgleich er sich in diesem Augenblick Mühe gab, uns nicht anzusehen, so war ihm doch am Gesicht anzumerken, daß ihm Anna Andrejewnas Blick nicht entgangen war.

      »Ich war in Geschäften ausgegangen, Wanja«, begann er auf einmal. »Es ist eine ganz nichtswürdige Geschichte. Habe ich es dir schon gesagt? Ich werde vollständig verurteilt werden. Ich habe keine Beweise, siehst du wohl; es fehlen mir die erforderlichen Belege; meine Auskünfte stellen sich als unrichtig heraus, heißt es … Hm!«

      Er redete von seinem Prozeß mit dem Fürsten; dieser Prozeß zog sich immer noch hin, hatte aber für Nikolai Sergejewitsch eine sehr üble Wendung genommen. Ich schwieg, da ich nicht wußte, was ich ihm antworten sollte. Er sah mich mißtrauisch