Mann blieb auf der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Seine äußere Erscheinung war die gleiche wie gestern, dieselbe Gestalt, dieselbe Kleidung; aber in seinem Gesicht und in seinem Blick war eine starke Veränderung vorgegangen: er sah jetzt ganz niedergeschlagen aus, und nachdem er einen Augenblick so dagestanden hatte, seufzte er tief. Es fehlte nur, daß er dabei die Hand an die Backe gelegt und den Kopf zur Seite gebeugt hätte; dann hätte er vollständig wie ein altes Weib ausgesehen.
»Was wünschen Sie?« fragte Raskolnikow, der leichenblaß geworden war.
Der Mann schwieg noch eine kleine Weile und verneigte sich dann auf einmal tief vor ihm, fast bis zur Erde; wenigstens berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.
»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow.
»Verzeihen Sie mir!« erwiderte der Mann leise.
»Was soll ich Ihnen verzeihen?«
»Meine bösen Gedanken.«
Beide blickten einander an.
»Ich hatte mich geärgert. Als Sie damals kamen, vielleicht wirklich in betrunkenem Zustande, und die Hausknechte aufforderten, mit nach dem Polizeibureau zu kommen, und nach dem Blute gefragt hatten, da ärgerte ich mich, daß man Sie so einfach für betrunken hielt und unbehelligt gehen ließ. Und ich ärgerte mich so, daß ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Und da ich Ihre Adresse im Kopfe behalten hatte, so kam ich gestern hierher und erkundigte mich nach Ihnen … Ich habe Sie beleidigt.«
»Sie sind also aus jenem Hause?«
»Ja, ich wohne da. Ich stand damals mit den Hausknechten im Torweg; erinnern Sie sich vielleicht? Ich habe da auch meine Werkstatt, seit vielen Jahren. Ich bin Kürschner, Kleinbürger; ich arbeite im Hause. Und ich ärgerte mich so …«
Nun erinnerte sich Raskolnikow auf einmal deutlich an die ganze Szene von vorgestern im Torweg; er hatte noch im Gedächtnis, daß damals außer den Hausknechten dort noch ein paar Leute gestanden hatten, auch eine Frau. Er entsann sich einer Stimme, die den Vorschlag gemacht hatte, ihn ohne weiteres auf die Polizei zu bringen. Auf das Gesicht dessen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte ihn auch jetzt in seinem Besucher nicht wieder; aber es war ihm erinnerlich, daß er ihm damals eine Antwort gegeben und sich auch nach ihm umgewandt hatte.
Also das war nun die Erklärung des ganzen schrecklichen Erlebnisses von gestern. Am furchtbarsten war es ihm, sich sagen zu müssen, daß er infolge eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrunde gegangen wäre, sich beinahe zugrunde gerichtet hätte. Also hatte dieser Mensch von nichts erzählen können als von dem Wohnungmieten und dem Gespräche über das Blut. Folglich hatte auch Porfirij kein Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen, nur »psychologische Beweise«, die »ihre zwei Seiten … hier fehlt eine ganze Zeile im Buch … Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen ans Licht kamen (und solche durften nicht mehr ans Licht kommen, unter keinen Umständen!) – was konnte man ihm dann anhaben? Wodurch konnte man ihn dann überführen, selbst wenn man ihn festnahm? Und folglich hatte Porfirij erst jetzt, erst eben jetzt von dem Besuch in der Wohnung erfahren und vorher nichts davon gewußt.
»Da haben Sie also heute wohl Porfirij davon erzählt, … daß ich nach Ihrem Hause gekommen war?« rief er, von einem Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, überrascht.
»Was für einem Porfirij?«
»Dem Untersuchungskommissar.«
»Ja, dem habe ich es gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, und da bin ich hingegangen.«
»Heute?«
»Ich war unmittelbar vor Ihnen da. Und ich habe alles gehört, wie er Sie gefoltert hat.«
»Wo? Was? Wann?«
»Nun dort, bei ihm hinter der Bretterwand; da habe ich die ganze Zeit über gesessen.«
»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Aber ich bitte Sie, wie ist denn das zugegangen?«
»Als ich sah«, erwiderte der Kleinbürger, »daß die Hausknechte trotz meines Zuredens nicht hingehen wollten (sie sagten, nun wäre es schon zu spät, und er würde womöglich noch böse werden, weil sie nicht sogleich mit Ihnen hingekommen wären), da ärgerte ich mich und konnte nicht schlafen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Und nachdem ich mich gestern nach Ihnen erkundigt hatte, ging ich heute zu dem Untersuchungskommissar hin. Als ich zum ersten Male hinkam, war er nicht da; als ich eine Stunde später wieder hinkam, empfing er mich nicht; als ich zum dritten Male kam, wurde ich vorgelassen. Ich berichtete ihm alles, wie es sich zugetragen hatte, und da fing er an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust gegen die Brust zu schlagen. ›Ihr nichtswürdige Bande‹, sagte er, ›warum habt ihr mir das nicht gleich gemeldet? Hätte ich das gewußt, so hätte ich ihn mir durch die Polizei herholen lassen!‹ Dann lief er hinaus, rief jemanden herein und redete mit ihm in einer Ecke; dann wendete er sich wieder zu mir, fragte mich allerlei und schimpfte. Er machte mir viele Vorwürfe, und ich hatte ihm doch alles berichtet und ihm auch gesagt, daß Sie gestern nicht gewagt hätten, mir auf meine Worte etwas zu antworten, und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Da fing er wieder an herumzulaufen und schlug sich immer gegen die Brust und war ärgerlich und lief umher; und als Sie angemeldet wurden, da sagte er zu mir: ›Na, geh mal hinter die Zwischenwand, sitze da einstweilen und rühre dich nicht, was du auch hören magst!‹ und er brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich ein. ›Vielleicht werde ich dich noch befragen‹, sagte er. Als aber Nikolai hereingekommen war, da ließ er mich, nachdem Sie weg waren, hinaus. ›Ich werde dich noch einmal vorladen und noch weiter befragen‹, sagte er.«
»Hat er Nikolai in Ihrer Gegenwart verhört?«
»Nachdem er Sie hinausbegleitet hatte, entließ er mich auch gleich und fing an, Nikolai zu verhören.«
Der Kleinbürger hielt inne, verbeugte sich nochmals und berührte dabei wieder mit dem Finger den Boden.
»Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verleumdet und so schlecht von Ihnen gedacht habe.«
»Gott wird es Ihnen verzeihen«, antwortete Raskolnikow.
Sowie er dies gesagt hatte, verbeugte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber nun nicht bis zur Erde, sondern nur bis zur Höhe des Gürtels, drehte sich langsam um und ging aus dem Zimmer.
›Jetzt hat alles seine zwei Seiten!‹ sagte sich Raskolnikow und verließ mutiger als je das Zimmer.
›Jetzt wollen wir noch unsere Kräfte miteinander messen‹, dachte er mit einem ingrimmigen Lächeln, während er die Treppe hinabstieg. Der Ingrimm richtete sich gegen ihn selbst; nur mit Geringschätzung und Beschämung erinnerte er sich jetzt seines »Kleinmutes«, wie er sich in Gedanken ausdrückte.
Fünfter Teil
I
Der Morgen, welcher auf die für Pjotr Petrowitsch so verhängnisvolle Aussprache mit Dunja und Pulcheria Alexandrowna folgte, übte auch auf Pjotr Petrowitsch seine ernüchternde Wirkung aus. Das Ereignis, das ihm noch gestern als etwas Phantastisches und, obgleich es sich zugetragen hatte, dennoch sozusagen als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, dieses Ereignis mußte er zu seinem größten Mißvergnügen allmählich als eine vollendete und nicht mehr rückgängig zu machende Tatsache anerkennen. Die schwarze Schlange der verletzten Eigenliebe hatte die ganze Nacht über an seinem Herzen genagt. Sobald er sich vom Bette erhoben hatte, besah er sich sogleich im Spiegel. Er fürchtete, es könnte ihm die Galle ins Blut getreten sein. In dieser Hinsicht jedoch war vorläufig alles noch in guter Ordnung, und als er sein vornehmes, weißes und in letzter Zeit etwas voller gewordenes Gesicht betrachtete, fühlte er sich sogar für einen Augenblick getröstet, in der festen Überzeugung, daß er wohl auch noch anderwärts eine Braut für sich finden werde, vielleicht sogar eine noch bessere; aber sofort trat auch wieder der Gedanke an die ihm widerfahrene Kränkung in den Vordergrund, und er spuckte energisch seitwärts aus, wodurch er ein stillschweigendes, aber spöttisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow hervorrief. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und