Ödön von Horváth

Die wichtigsten Dramen von Ödön von Horváth


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friert es mich. Er tritt vor das Pult; er ist barfuß. Ich muß mir nur noch die Schuhe holen. Ab in den Speisesaal. Die Sonne scheint wieder.

      KARL

      sieht Max nach: Ein geborener Verbrecher.

      STRASSER

      Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele.

      KARL

      Aber dreckige Füße.

      STRASSER

      geht auf und ab; lacht vor sich hin: Die Erdachse, die Erdachse – Diese Erdachse! Er bleibt vor der Landkarte stehen. Europa. Europa.

      KARL

      Man müßte fort.

      MAX

      kommt aus dem Speisesaal; er ist noch immer barfuß: Hat vielleicht jemand meine Schuhe gesehen? – Hat niemand meine Schuhe gesehen? – Ich kann meine Schuhe nirgends finden –

      EMANUEL FREIHERR VON STETTEN

      ein zierlicher Lebegreis mit Trauerflor, tritt rasch durch die Eingangstüre; betupft sich mit einem Spitzentaschentuch nervös die Stirne: Bin ich hier richtig? Bin ich hier richtig? Hotel zur schönen Aussicht, wie? Ja? – Melden Sie mich Baronin Stetten. Da! Er übergibt seine Karte Karl, der ihm am nächsten steht. Karl reicht sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen, Strasser.

      MAX

      im Hintergrund: Wer ist denn?

       Stille.

      Wer ist denn?

      EMANUEL

      Nun – wird man es noch erleben können? Bewegung, bitte! Bewegung!

      KARL

      Sie werden es auch noch erleben. Die kommt gleich runter.

      EMANUEL

      Wer ›die‹?

      MAX

      Wer ist denn?

      EMANUEL

      empört: Zustände!

      STRASSER

      Herr Baron!

      MAX

      entsetzt: Was ist der?!

      STRASSER

      verbeugt sich: Im Moment! Ada Freifrau von Stetten ein aufgebügeltes, verdorrtes weibliches Wesen mit Torschlußpanik; steigt in einem rosa Kleidchen, Automantel und Mütze, in der Hand eine Reitgerte, feierlich die Stufen herab; erblickt Emanuel; bleibt angewurzelt.

       Emanuel verbeugt sich tief.

      ADA

      Ach! – Welch charmanter Besuch.

      EMANUEL

      Ich kann es dir nachfühlen, daß dich mein unerwartetes Auftauchen seltsam berührt.

      ADA

      Das war deine Stimme. – Ich glaubte schon, ich sähe Gespenster.

      EMANUEL

      Man darf wohl noch hoffen. Er tritt zu ihr und küßt ihre Hand. Zehn Minuten. Nur zehn Minuten, bitte.

      ADA

      zu Karl: Herkules! Wir fahren in fünf Minuten.

       Stille.

      EMANUEL

      Also fünf Minuten. – Ich bitte, dich unter vier Augen sprechen zu dürfen. Nur fünf Minuten. Strasser, Karl, Max machen Miene sich zu entfernen.

      ADA

      Hiergeblieben! Hiergeblieben!

       Stille.

      EMANUEL

      Schwester. Ich kann es durchaus begreifen, daß du mich haßt. Aber diese Grausamkeit – ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du die primitivsten Gesetze gesellschaftlichen Verkehrs –

      ADA

      unterbricht ihn: Kritik?! Dicht vor ihm. Unterstehe dich, unterstehe dich nicht noch einmal – Man sagt zwar, daß sich Zwillinge gut verstehen, sozusagen: lieben, aber in unserem speziellen Falle, Herr Zwillingsbruder, stimmt das nicht. Es stimmt etwas nicht. Ja ja!

      EMANUEL

      Wir sind alle verrückt!

      ADA

      Ich bin nicht verrückt. Hörst du? Ich will nicht verrückt sein! Ich denke nicht daran, dir diesen Gefallen zu erweisen! – Du hast dich schon einmal zum Anwalt gewisser Individuen erniedrigt. Ich bin nicht verrückt – ich lasse mich nicht unter Kuratel – Kusch! Gewisse Individuen wollten mich nämlich unter Kuratel – Sie erblickt den Trauerflor an seinem Arme; stockt; grinst und berührt ihn mit der Gerte. Diese Familie – Ich trage keinen Trauerflor. Keinen. Ich bin nicht stolz auf Gespenster – War es eine fröhliche Leiche?

      EMANUEL

      Laß die Toten, wenn ich bitten darf.

      ADA

      Es gibt keine Toten. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. Sie schminkt sich die Lippen.

      EMANUEL

      Ich weiß, daß du religiös bist.

      ADA

      zuckt zusammen; fixiert ihn mißtrauisch: Du findest ein Wort der Anerkennung, du? Jetzt wird man sich hüten müssen – Heraus mit der Hinterlist! Was willst du? Sprich! So sprich!

       Stille.

      EMANUEL

      Es geht um ein Menschenleben. – Du allein sollst richten, ob dieser Mensch die nächsten zwölf Stunden überleben darf, oder ob er sich Punkt fünf Uhr früh selbst guillotinieren muß. Um was ich dich bitte, ist eine solch lächerliche Geringfügigkeit, verglichen mit eines Menschen Leben, daß – Ada, es dreht sich um ein Menschenleben. Ohne mein Verschulden hat mich das Schicksal in eine vernichtende Situation hineinmanövriert. Gestern abend wurde im Klub gespielt, wie immer. Karten. Gott, man spielt ja nicht, um zu gewinnen, aber trotzdem kann man verlieren! Ich verlor, verlor, verlor – das Blatt wandte sich gegen mich, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich spielte bis fünf Uhr früh, mit ganzer Kraft bemüht wiedergutzumachen, doch wen die Götter vernichten wollen, dem nützt der gute Wille nichts. Ich verlor, bis fünf Uhr früh. – Nun bist du meine letzte Hoffnung. Du kannst mich begnadigen. Nur du. Ich bin hierhergestürzt – bis ich nur diese Station auf dem Fahrplan fand! – Es ist meine vorletzte Station.

      ADA

      Möglich.

       Stille.

      Wieviel hast du denn verloren?

      EMANUEL

      Siebentausend.

      ADA

      Und das kannst du nicht?

      EMANUEL

      Passé.

      ADA

      Und du, du wolltest mich unter Kuratel?

      EMANUEL

      Nicht ich!

      ADA

      Kusch!

       Stille.

      EMANUEL

      Ada. Ich komme zu dir nicht nur als Mensch zum Mensch. Einst standen wir zwei ja fast, als wären wir gar nicht Schwester und Bruder – erinnerst du dich noch?

      ADA

      Ich will mich nicht erinnern.

      EMANUEL

      zieht einen Revolver: Ich habe mir meine Guillotine