Kathrin Singer

Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman


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      »Beruhige dich, Björn ist kein schlechter Kerl, der seine Kinder missbrauchen würde, nur um seine Rachsucht zu befriedigen.« Der Forstmeister senkte den Kopf. »Liebst du meinen Bruder, Julia?«

      Flammende Röte schoss Julia ins Gesicht. Sie warf den Kopf wild und trotzig in den Nacken. »Habe ich irgendetwas verbrochen? Muss ich mir ein Kreuzverhör gefallen lassen? Mein einziges Verbrechen ist, dass ich die Kinder liebe.«

      »Und Björn«, setzte der Förster traurig hinzu. »Deine Antwort war deutlich genug.«

      Mit ein paar schnellen Schritten trat Julia dicht vor ihren Mann hin. »Was ist Liebe? Weißt du es? Ich nicht. Früher habe ich mir eingebildet, es genau zu wissen, aber jetzt sind all meine schönen Vorstellungen wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Ob ich Björn liebe? Ich habe ein Abenteuer mit ihm erlebt, ja. Er ist der Typ, der die Fantasie eines Mädchens entzündet, ein Herzensbrecher, wie er im Buche steht. Aber war das Liebe? Was hat der Dorfpfarrer heute gesagt? Erst am Ende eines langen gemeinsamen Lebens stellt sich heraus, ob man einen Menschen wirklich liebt. So ist das!«

      Ein wehmütiges Lächeln zitterte um die Lippen des Försters. Er legte die Hände auf Julias Schultern. »Ich liebe dich und werde dich immer lieben …« Er wollte sie an sich ziehen, doch mit einer blitzschnellen Bewegung machte die junge Frau sich frei. »Lass mich bitte! Ich kann jetzt nicht!« Sie lief wie gejagt aus dem Haus.

      Im Garten kam ihr Bruni, das Rehkitz, zutraulich entgegen und sah aus großen treuen Augen zu ihr auf. Mit einem Seufzer der Verzweiflung ließ sich Julia auf die Knie ins Gras sinken, schmiegte beide Arme um den Hals des Tieres und presste ihre Wange gegen das Fell.

      »Ach, Bruni, du hast ein Zuhause gefunden, du hast es gut. Heidi und Carsten haben kein Zuhause … Wenn ihr richtiger Vater will, kann er sie herumzerren und herumstoßen, wie es ihm passt … Was soll nur werden?«

      Heiße Tränen brannten in ihren Augen, als sie sich mühsam wieder aufrichtete. Sie musste Björn dazu bringen, die Kinder in ihrer Obhut zu lassen. Sie musste! Um jeden Preis! Nach diesem Entschluss fühlte sie sich etwas besser.

      Als sie ins Försterhaus zurückkehrte, wartete Matthias unter der Tür auf sie. Bevor er das Wort an sie richten konnte, sagte sie: »Entschuldige bitte, ich bin sehr, sehr müde. Das war alles ein bisschen viel heute. Ich muss jetzt allein sein, das verstehst du sicher, nicht wahr?«

      »Ja«, antwortete er ruhig.

      Sie nickte ihm zu und verschwand mit bebenden Wangen in ihrem Zimmer. Nachdrücklich verschloss sie die Tür. Sie war allein. Mit leeren Augen starrte sie auf das Gemälde, über das Matthias sich so mokiert hatte, die unbekleidete Schöne im Rosengarten, von Engelputten hold umschwebt und zärtlich behütet, selig und sorglos lächelnd.

      Selig und sorglos – das wirkliche Leben sah leider völlig anders aus. Im wirklichen Leben folgte eine Enttäuschung auf die andere.

      Aufschluchzend ließ Julia sich auf ihr Bett fallen. Verzweifelt presste sie den Kopf in das Kissen. Ihre Finger krallten sich in die Decke.

      Die Zukunft lag wie ein dunkler, unheimlicher Abgrund vor ihr.

      *

      Als Julia am nächsten Morgen in den Spiegel blickte, lächelte sie bitter. Ihre Hochzeitsnacht hatte sie sich wahrhaftig anders erträumt. Sie hatte diese Nacht in qualvollen Träumen verbracht, aus denen sie immer wieder schweißgebadet in die Höhe geschreckt war. Einige Male war sie in Versuchung gewesen, in die Arme – die starken, tröstenden Arme ihres Mannes zu eilen. Es musste schön sein, einfach die Augen zu schließen, sich fallen zu lassen und nicht mehr zu denken. Mochten doch die anderen die Entscheidungen fällen … Doch nein! So konnte sie nicht leben! Sie wollte Herrin ihres Schicksals sein, kein hilfloses Rohr im Wind.

      Ein gequälter Zug lag auf ihrem übernächtigten Gesicht.

      Nachdem Julia geduscht hatte, legte sie ein wenig Make-up auf, um die Spuren der einsamen Nacht zu vertuschen. Obwohl sie sich elend fühlte, wählte sie mit Bedacht ein fröhliches, bunt geblümtes Sommerkleid mit weitem Rock. Sie wollte sich heiter und unbeschwert geben – vor allem den Kindern gegenüber.

      Heidi und Carsten bemerkten denn auch nicht, wie es in ihr aussah. Sie begrüßten ihre Mami mit Hallo und überschäumender Begeisterung. Unwillkürlich schossen Julia die Tränen in die Augen.

      »Mami, warum weinst du denn?«, fragte Carsten erschrocken.

      »Aus Freude«, erwiderte sie hastig und strich dem Jungen über das blonde Haar, »nur vor Freude.«

      »Kann man auch vor Freude weinen?«, erkundigte sich Heidi interessiert.

      »Ja, mein Schätzchen. Wenn die Hälfte aller Tränen, die auf der Welt vergossen werden, Freudentränen wären, hätten wir das Paradies auf Erden.«

      Matthias und sein Bruder Björn, der im Gästezimmer unter dem Dach übernachtet hatte, ließen sich erst sehen, als der Frühstückstisch gedeckt war. Die beiden Männer wirkten ernst und düster. Hatte es bereits eine Aussprache zwischen ihnen gegeben? Vergeblich versuchte Julia in ihren Augen zu lesen.

      Als Björn sich setzte, schmiegte sich Heidi an seine Beine und fragte arglos: »Onkel Björn, hast du unsere Mami auch lieb?«

      Das Gesicht des Abenteurers wurde kantig. Spontan zog er das kleine Mädchen auf den Schoß. »Hör mal zu, auch du, Carsten. Ich muss euch etwas sagen. Ihr seid jetzt schon große Kinder und werdet mich verstehen.«

      Julia stockte der Atem. Sie warf ihrem Schwager einen beschwörenden und ihr ein Mann einen flehenden Blick zu.

      Doch schon sprach Björn weiter: »Tante Julia ist nicht eure Mami. Tante Julia ist eure Tante, eure richtige Tante. Und euer Vati ist euer Onkel Matthias. Euer richtiger Vati bin ich.«

      Das kleine blonde Mädchen starrte den Mann ängstlich an und fragte mit zitterndem Stimmchen: »Warum sagst du so was, Onkel Björn?«

      Er strich dem Kind liebevoll über das Haar.

      »Ich sage die Wahrheit, Heidi. Eure Mutti, die schon lange im Himmel ist, war meine Frau. Also bin ich euer Vater. Wir haben es euch bisher nicht gesagt, weil ihr noch so klein wart. Ein Vati ist natürlich etwas anderes als ein guter Onkel. Das heißt …« Björn räusperte sich. »Das heißt, ein Vati möchte seine Kinder natürlich gern bei sich haben, und darum werdet ihr nicht mehr länger hierbleiben, sondern mit mir kommen.«

      Da stemmte Heidi beide Fäustchen verzweifelt gegen die breite Brust des Mannes, wehrte sich gegen seine zupackenden großen Hände, rutschte von seinen Knien und flüchtete sich mit einem »Mami!« in Julias Arme.

      Björn runzelte die Stirn, unwillig und verstört. Dann wandte er sich an den reglos auf seinem Stuhl sitzenden Siebenjährigen und meinte grinsend: »Weiber! Du wirst die Wahrheit besser verkraften, nicht wahr, mein Junge? Komm her, komm zu deinem Vati!«

      Doch auch Carsten stürzte nach kurzem Zögern in Julias Arme. Sie streichelte die Kinder mechanisch und murmelte: »Nur keine Angst – es wird alles gut – nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird …« Unvermittelt wandte sie sich an Björn: »Ich möchte dich sprechen – unter vier Augen. Sofort.« Sanft, aber bestimmt schob sie Heidi und Carsten von sich. »Bin bald zurück, Kinder.«

      »Bestimmt?«, fragte Heidi weinerlich.

      »Was ich verspreche, halte ich.« Julia hauchte einen Kuss auf das seidige blonde Haar des Mädchens. Anschließend eilte sie aus dem Haus.

      Es war ein herrlicher Morgen. Noch blitzten die letzten Tautropfen auf den Gräsern, die im Schatten standen. Die Vögel jubilierten, als übten sie für ein Fest. Julia aber sah die Welt grau in grau. Geistesabwesend tätschelte sie im Vorbeigehen das zahme Reh. Sie hörte, dass Björn ihr folgte.

      Als sie eine Gartenbank erreichte, die zwischen verwilderten Fliederbüschen ein verstecktes Dasein führte, ließ Julia sich mit weichen Knien nieder. Der Abenteurer nahm neben ihr Platz. Er wirkte ungewohnt ernst.

      Julia wandte ihm langsam das Gesicht zu.