Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution


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ein echter Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben Operationen der „Parteidisziplin“ mit freudig geschlossenen Augen. „Der Bürokratismus entgegen dem Demokratismus“, sagt Lenin, das ist eben das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten.“ (S. 151) Er beruft sich mit Nachdruck darauf, daß derselbe Gegensatz der zentralistischen und autonomistischen Auffassung in der Sozialdemokratie aller Länder bemerkbar wird, wo sich die revolutionäre und reformistische oder revisionistische Richtung entgegenstehen. Speziell exemplifiziert er mit den jüngsten Vorgängen in der deutschen Partei und mit der Diskussion, die sich um die Frage der Autonomie des Wahlkreises entsponnen hatte. Schon aus diesem Grunde dürfte eine Nachprüfung der Leninschen Parallelen nicht ohne Interesse und ohne Nutzen sein.

      Vor allem muß bemerkt werden, daß in der starken Herausstreichung der angeborenen Fähigkeiten der Proletarier zur sozialdemokratischen Organisation und in der Verdächtigung der „akademischen“ Elemente der sozialdemokratischen Bewegung an sich noch nichts „Marxistisch-Revolutionäres“ liegt, vielmehr darin ebensoleicht die Verwandtschaft mit opportunistischen Ansichten nachgewiesen werden kann. Der Antagonismus zwischen dem rein proletarischen Element und der nichtproletarischen sozialistischen Intelligenz – das ist ja der gemeinsame ideologische Schild, unter dem sich der französische halbanarchistische Nurgewerkschaftler mit seinem alten Rufe: Méfiez-vous de politiciens!, das Mißtrauen des englischen Trade-Unionismus gegen die sozialistischen „Phantasten“ und endlich – wenn wir richtig orientiert sind – auch der reine „Ökonomismus“ der ehemaligen Petersburger Rabotschaja Mysl (Arbeitergedanke) mit ihrer Übertragung der trade-unionistischen Borniertbeit nach dem absolutistischen Rußland die Hand reichen.

      Allerdings läßt sich in der bisherigen Praxis der westeuropäischen Sozialdemokratie ein unleugbarer Zusammenhang zwischen Opportunismus und akademischem Element sowie andererseits zwischen Opportunismus und Dezentralisationstendenzen in den Organisationsfragen bemerken. Löst man aber diese Erscheinungen, die auf einem konkreten historischen Boden entstanden sind, von diesem Zusammenhang los, um sie zu abstrakten Schablonen von allgemeiner und absoluter Gültigkeit zu stempeln, so ist ein solches Verfahren die größte Sünde wider den „Heiligen Geist“ des Marxismus, nämlich gegen seine historisch-dialektische Denkmethode.

      Abstrakt genommen, läßt sich nur soviel feststellen, daß der „Akademiker“, als ein seiner Herkunft nach dem Proletariat fremdes, von der Bourgeoisie abstammendes Element, nicht im Einklang mit dem eigenen Klassenempfinden, sondern nur durch dessen Überwindung, auf dem Wege der Ideologie zum Sozialismus gelangen kann und deshalb eher zu opportunistischen Seitensprüngen prädisponiert ist als der aufgeklärte Proletarier, dem – wofern er den lebendigen Zusammenhang mit seinem sozialen Mutterboden, mit der proletarischen Masse, nicht verloren hat – sein unmittelbarer Klasseninstinkt einen sicheren revolutionären Halt gibt. In welcher konkreten Form jedoch diese Veranlagung des Akademikers zum Opportunismus erscheint, welche handgreiflichste Gestalt namentlich von Organisationstendenzen sie annimmt, das hängt jedesmal von dem konkreten sozialen Milieu der Gesellschaft ab, um die es sich handelt.

      Die Erscheinungen im Leben der deutschen wie der französischen und der italienischen Sozialdemokratie, auf die sich Lenin beruft, sind aus einer ganz bestimmten sozialen Basis emporgewachsen, nämlich aus der des bürgerlichen Parlamentarismus. Wie dieser überhaupt der spezifische Nährboden der gegenwärtigen opportunistischen Strömung in der sozialistischen Bewegung Westeuropas ist, so sind auch die besonderen Tendenzen des Opportunismus zur Desorganisation aus ihm entsprossen.

      Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennengelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet derselbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letztere zum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unterschlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht.

      Aus all diesen Momenten ergibt sich auch die bestimmte Neigung des opportunistischen Akademikers der westeuropäischen Sozialdemokratie zur Desorganisation und zur Disziplinlosigkeit. Die zweite bestimmte Voraussetzung der gegenwärtigen opportunistischen Strömung ist nämlich das Vorhandensein einer bereits hohen Entwicklungsstufe der sozialdemokratischen Bewegung, also auch einer einflußreichen sozialdemokratischen Parteiorganisation. Die letztere erscheint nun als derjenige Schutzwall der revolutionären Klassenbewegung gegen bürgerlich-parlamentarische Tendenzen, den es zu zerbröckeln, auseinanderzutragen gilt, um den kompakten aktiven Kern des Proletariats wieder in der amorphen Wählermasse aufzulösen. So entstehen die historisch wohlbegründeten und bestimmten politischen Zwecken vortrefflich angepaßten „autonomistischen“ und dezentralistischen Tendenzen des modernen Opportunismus, die somit nicht aus der angeborenen Liederlichkeit und Waschlappigkeit des „Intellektuellen“, wie Lenin annimmt, sondern aus den Bedürfnissen des bürgerlichen Parlamentariers, nicht aus der Psychologie des Akademikers, sondern aus der Politik des Opportunisten zu erklären sind.

      All diese Verhältnisse sehen aber in dem absolutistischen Rußland bedeutend anders aus, wo der Opportunismus in der Arbeiterbewegung überhaupt nicht ein Produkt des starken Wachstums der Sozialdemokratie, der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, wie im Westen, sondern, umgekehrt, ihrer politischen Zurückgebliebenheit ist.

      Die russische Intelligenz, aus der sich der sozialistische Akademiker rekrutiert, hat begreiflicherweise einen viel unbestimmteren Klassencharakter, ist viel mehr deklassiert im genauen Sinne des Wortes als die westeuropäische Intelligenz. Daraus ergibt sich zwar – im Verein mit der Jugendlichkeit der proletarischen Bewegung in Rußland – im allgemeinen ein viel weiterer Spielraum für theoretische Haltlosigkeit und opportunistisches Herumvagieren, das sich bald in einer gänzlichen Negierung der politischen Seite der Arbeiterbewegung, bald in dem entgegengesetzten Glauben an den alleinseligmachenden Terror verläuft, um schließlich auf den Morästen des Liberalismus politisch oder des kantischen Idealismus „philosophisch“ auszuruhen.

      Allein für die spezifische aktive Tendenz zur Desorganisation fehlt dem russischen sozialdemokratischen Akademiker unseres Erachtens nicht nur der positive Anhaltspunkt im bürgerlichen Parlamentarismus, sondern auch das entsprechende sozialpsychische Milieu. Der moderne westeuropäische Literat, der sich dem Kultus seines angeblichen „Ich“ widmet und diese „Herrenmenschenmoral“ auch in die sozialistische Kampf- und Gedankenwelt verschleppt, ist der Typus nicht der bürgerlichen Intelligenz überhaupt, sondern einer bestimmten Phase ihrer Existenz, nämlich er ist das Produkt einer dekadenten, verfaulten, im schlimmen Zirkel ihrer Klassenherrschaft bereits festgerannten Bourgeoisie. Die utopischen und opportunistischen Schrullen des russischen sozialistischen Akademikers neigen hingegen in erklärlicher Weise eher dazu, die umgekehrte theoretische Gestalt der Selbstentäußerung, der Selbstgeißelung anzunehmen. War doch das einstige „Ins-Volk-Gehen“, das heißt der obligatorische Mummenschanz des Akademikers als Bauer, bei den alten „Volkstümlern“ gerade eine verzweifelte Erfindung desselben Akademikers, ebenso wie neuerdings der grobe Kultus der „schwieligen Faust“ bei den Anhängern des reinen „Ökonomismus“.

      Sucht man die Frage der Organisationsformen nicht auf dem Wege der mechanischen Übertragung starrer Schablonen aus Westeuropa nach Rußland zu lösen, sondern durch die Untersuchung der gegebenen konkreten Verhältnisse in Rußland selbst, so gelangt man zu einem ganz anderen Resultat. Dem Opportunismus zuschreiben, wie Lenin dies tut, daß er überhaupt für irgendeine bestimmte Form der Organisation – sagen wir für Dezentralisation – schwärmt, heißt jedenfalls seine innere Natur verkennen. Opportunistisch wie er ist, hat der Opportunismus auch in Organisationsfragen zum einzigen Prinzip die Prinzipienlosigkeit. Seine Mittel wählt er immer nach den Umständen, insofern sie seinen Zwecken entsprechen. Formulieren wir