sei. Wir müssen die Sache der Polizei melden«, sagte er in matt klingendem Ton wie zu sich selbst. »Das Zeug muss umgehend aus dem Handel gezogen werden. Thomas Brandler muss auf der Stelle seine Kunden warnen. Und Claudia …« Er strich sich mit beiden Händen übers Gesicht.
»Ich fahr sofort zu ihr«, bot sich seine Frau an. »Sie sollte jetzt nicht allein sein.«
»Schwester Gertrud, Sie kommen mit mir zu Frau Breitner. Sie braucht so schnell wie möglich das Gegengift.«
*
Im Laufe dieses Tages setzte sich eine Maschinerie in Gang, die das ganze Ruhweiler Tal in Aufruhr versetzte.
Panik ging um. Beim Metzger, Bäcker, im Blumenladen, überall, wo die Hausfrauen einkauften, ergingen sie sich in wüsten Beschimpfungen über die Kräuterhexe. Es gab nur wenige, die sich zurückhielten. Zu denen gehörten natürlich der Landarzt und seine Frau sowie Thomas. Er hielt die Apotheke an diesem Tag geschlossen und war schon am frühen Morgen, nachdem er die Horrormeldung erhalten hatte, sofort zu Claudia gefahren, der er jetzt beim Verhör mit Hauptwachtmeister Kruse beistand.
Claudia schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Ich kann das nicht verstehen«, wiederholte sie zum zigsten Mal. »Ich kann mir nicht erklären, wie diese Gifte in meine Tees gekommen sind. Ich gehe sehr, sehr sorgfältig vor beim Mischen. Und ich probiere alle meine Produkte selbst, bevor ich sie verkaufe. Ich habe bisher keinerlei Beschwerden gehabt.«
Der nicht allzu arbeitseifrige Kruse stand dem Fall sichtlich hilflos gegenüber. Er mochte die junge Frau, wie die meisten Männer im Tal, sah sich aber gezwungen, kraft seines Amtes resolut gegen sie vorzugehen.
»Ich muss Ihren Laden leider ab sofort schließen, und Sie werden mit Anzeigen wegen Körperverletzung rechnen müssen.« Nervös drehte er seine Kappe in den Händen, trat von einem Bein aufs andere. »Und ich muss Sie jetzt mitnehmen auf die Wache. Zum Protokoll.«
Thomas, der neben seiner Hexenfee saß, legte tröstend den Arm um ihre Schulter. »Ich bleibe bei dir, keine Angst«, sagte er zu ihr.
»Ich würde es für sinnvoll halten, wenn die Tees hier aus dem Laden auch schnellstens untersucht würden«, sagte Ulrike zu dem Hauptwachtmeister, der die Brunners gut kannte. »Ich könnte die Proben gleich ins Labor fahren.«
»Moment, Moment …«, schritt da der behäbige Polizist ein, dem die Sache über den Kopf wuchs. »Das muss alles seinen behördlichen Gang gehen. Das muss erst von oberer Stelle angeordnet werden.«
»Blödsinn, Kruse«, widersprach ihm da die Landarztfrau in ihrer energischen Art. »Das machen Matthias und ich privat. Wir kennen den Laborchef. Ich bin sicher, dass wir heute noch ein Ergebnis bekommen werden.«
Da straffte sich der Hauptwachtmeister und zog seine Uniformjacke über dem Bauch glatt, welcher die Knöpfe zu sprengen drohte. »Ich kann nicht gestatten, dass irgendein Beweisgut den Laden verlässt.«
»Kruse, ich habe ja auch nicht vor, alle Teetüten mitzunehmen.« Ulrike trat an den Polizisten näher heran, schenkte ihm ihr liebreizendstes Lächeln. »Nur ein paar Pröbchen. Sollten wir das Laborergebnis heute noch bekommen, wird sich dein Vorgesetzter zu deinem schnellen und verantwortungsvollen Handeln in diesem Fall bestimmt positiv äußern. Es geht darum, die Menschen hier zu schützen.«
»Aber nur von jeder Sorte eine kleine Probe«, gab der Hauptwachtmeister schließlich nach.
*
Matthias gelang es derweil, durch Verabreichung des Gegengiftes den Zustand von Eva Breitner zu stabilisieren. Erleichtert atmete er auf, als die Messinstrumente bessere Werte anzeigten.
»Ich bin so müde«, sagte die junge Frau mit geschlossenen Augen.
»Schlafen Sie«, erwiderte er. »Im Schlaf kann sich der Körper am besten regenerieren.«
»Kann ich hierbleiben?«, fragte ihr Mann.
»Aber sicher. Wenn irgendetwas sein sollte, drücken Sie den roten Knopf am Bett. Dann wird einer von uns sofort kommen«, versicherte er den beiden.
Mit schnellen Schritten ging er von der Klinik hinüber zur Praxis. Auch an diesem Vormittag gaben sich seine Patienten wieder die Klinke in die Hand. Alle hatten sich mit dem Darmgrippevirus infiziert, was ihn erleichterte. Kein einziger Fall von Vergiftung mehr, dachte er zufrieden. Thomas Brandler hatte also am frühen Morgen alle seine Kunden gewissenhaft gewarnt.
Zwischen den Behandlungen dachte der Landarzt immer wieder an Claudia Koch. Er war fest davon überzeugt, dass der Kräuterpädagogin keinerlei Fehler oder Irrtümer bei der Herstellung ihrer Tees unterlaufen waren. Die Frage lautete also: Wie war das Gift in die Tees gekommen, wenn nicht durch Claudia? Auf dem Transportweg von ihrem Kräuterladen zur Apotheke? In der Apotheke?
Jede freie Minute telefonierte er an diesem Vormittag mit seiner Frau, die in dem Labor auf die Testergebnisse der Proben aus Claudias Kräuterladen wartete.
»Chef, Sie müssen sofort zur Familie Hölderlein fahren«, unterbrach ihn Schwester Gertrud während einer Wundversorgung in alarmierendem Ton. »Dort gibt es wahrscheinlich auch einen schweren Fall von Vergiftung.«
»Verbinden Sie unseren Patienten bitte«, erwiderte er hastig durch die Sprechanlage, entschuldigte sich bei dem jungen Mann, der sich eine harmlose Sportverletzung zugezogen hatte, und rannte mit fliegenden Mantelschößen aus der Praxis.
*
Ein paar Minuten später kam er vor dem Haus der Familie Hölderlein an.
»Unsere älteste Tochter hat heute frei bekommen«, teilte ihm Frau Hölderlein atemlos mit. »Ich dachte, sie wäre wieder schlafen gegangen, als ich Geräusche aus ihrem Zimmer hörte. Seit einigen Tagen schreit sie oft im Schlaf. Ich wollte nachsehen und fand sie, wie sie sich vor Schmerzen gewunden hat. Kommen Sie schnell.«
Maja Hölderlein saß auf ihrem Bett und wimmerte. Zusätzlich litt sie unter Atemnot.
»Hast du von dem Tee aus der Apotheke getrunken?«, fragte Matthias das junge Mädchen sofort.
»Ja.« Maja nickte, weinte, presste die Hände gegen den Bauch und wand sich.
Umgehend rief er einen Rettungswagen. Dieser verfügte über Sauerstoffgeräte, die seine Patientin dringend brauchte. Das Gegengift hatte er in der Klinik, wo er es ihr dann sofort verabreichen konnte.
Es dauerte nicht lange, bis der Rettungswagen kam. Die Sanitäter schlossen Maja an das Sauerstoffgerät an und fuhren sie mit Blaulicht auf den Praxishügel. Nach einer halben Stunde war die Lebensgefahr gebannt. Matthias atmete erleichtert aus. Er überließ seine Patientin Monika Hauser, der Nachtschwester, und eilte zu seinen Patienten zurück, die das Wartezimmer füllten.
Auf dem Weg von Majas Krankenzimmer zur Praxis klingelte sein Handy.
»Ich bin es«, meldete sich seine Frau atemlos. »Alle Proben aus Claudias Laden sind rein. Sie enthalten keinerlei Gifte. Das kann doch nur bedeuten, dass die Tollkirsche und der Eisenhut auf dem Weg zur Apotheke oder erst dort vor Ort untergemischt worden sind.«
»Aber wer könnte …?« So erleichtert der Landarzt über das Ergebnis war, so sehr gab es ihm auch Rätsel auf.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ulrike. »Außer Dr. Brandler und Maja arbeitet niemand dort.«
Matthias stand auf dem langen Gang, der Klinik und Praxis miteinander verband. Durch das Fenster schaute er hinaus auf die Wiesen. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken wie auf einem Karussell.
»Vielleicht Maja?«, hörte er seine Frau zögernd fragen. »Es ist bekannt, dass sie in Thomas Brandler verliebt ist. Womöglich wollte sie…«
Ulrike verstummte am anderen Ende der Leitung.
»Maja scheidet als Täterin definitiv aus«, stellte er umgehend klar. »Sie ist vor einer Stunde bei uns mit schweren Vergiftungserscheinungen eingeliefert worden. Sie hat selbst von dem Tee