Mein Vater hatte einen Unfall …« Sie verstummte.
Nein, das war der völlig falsche Anfang. Ihre Familiengeschichte gehörte nun wirklich nicht hierhin.
Sie lächelte. Verlegen, wie sie selbst merkte.
»Ich bin halt kein Stadtmensch«, fuhr sie fort. »Kennst du Ruhweiler zufällig?«
»Ich weiß, wo der Ort ist, aber ich war noch nicht dort, obwohl er ja gar nicht weit von Freiburg entfernt liegt.«
»Du wohnst hier?«, fragte sie.
Er nickte. »Am Rande von Freiburg, auch im Grünen. Zur Arbeit fahre ich in die City.
»Spedition?« Sie lächelte ihn an.
Sie wusste ja schon viel mehr über Christian, als er dachte.
»Exakt«, erhielt sie seine Antwort, ebenfalls mit wissendem Lächeln. »Tankstelle?«
Sie lachte. »Stimmt.«
»Und Haushalt«, fügte er hinzu.
Sie verdrehte die Augen. »Dann haben wir ja gar keine Geheimnisse mehr voreinander.«
Wie lange war es her, dass sie mit einem Mann geflirtet hatte?
»Keine Sorge, ein bisschen hat Claudia mir über dich auch noch verschwiegen«, tröstete er sie.
»Das ist ja beruhigend.«
So alberten und flachsten sie eine Weile weiter, dann kam eine ernsthafte Unterhaltung zwischen ihnen zustande. Schnell stellten sie fest, dass sie die gleichen Interessen und Ansichten hatten. Verblüffend gleiche. Angela leitete die Tankstelle, Christian die Spedition. So tauschten sie sich auch bald über die Probleme aus, die eine solche Tätigkeit mit sich brachte.
Während des Redens und Zuhörens verspürte Angela immer stärker den Wunsch, ihre Hand auszustrecken und sie auf Christians muskulösen Arm zu legen. Diese Gefühle verwirrten sie zutiefst, und sie schämte sich ihrer fast. War sie etwa so hungrig auf diesen Mann? War er ihr bereits so vertraut?
Längst war die Musik leiser und ruhiger geworden. Ein paar Paare drehten sich eng umschlungen im Wohnzimmer. Einige Leute waren längst gegangen. Die Unterhaltung zwischen Angela und Christian versiegte. Christians Schweigen war so versonnen wie der Blick, mit dem er die junge Frau ansah.
»Tanzen?«
Angela nickte nur stumm. Ihr Herz schlug vor Aufregung hart an die Rippen.
Christian streckte die Hand aus, sie ergriff sie. Hand in Hand mischten sie sich unter die tanzenden Paare. Vom ersten Schritt an bewegten sie sich im Gleichtakt. Christians Arm hielt Angela auf gemäßigtem Abstand und dennoch so nah, dass sie seine Oberschenkel spüren konnte. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Hin und wieder berührte Christians Kinn ihr Haar. Sie schwiegen, nur ihre Körper kommunizierten miteinander und verstanden sich bestens.
Sie ließen keinen Tanz mehr aus. Angelas Glücksgefühl war unbeschreiblich.
War das der Augenblick, auf den sie gewartet hatte? Der Moment, in dem der Funke übersprang und zwei Menschen die Liebe entdeckten?
Christian tanzte mit ihr auf die Dachterrasse hinaus, wo sie sich langsam unter dem Sternenhimmel zum Takt des Schmusesongs weiterdrehten. Als dieser zu Ende war, hielt er in der Bewegung inne und sah ihr lange in die Augen.
»Ich glaube, ich möchte mit dir jetzt irgendwo hingehen, wo ich dich unbeobachtet küssen kann«, sagte er leise.
Dabei zog er ihre Hand an seine Lippen. Dann legte er den Arm um ihre Schultern und führte sie durchs Wohnzimmer. Als sie durchs Treppenhaus hinunterliefen, lachten sie sich an wie zwei Kinder, die anderen einen Streich spielten.
*
Längst war es still geworden in der Gasse, in der Claudia wohnte. Die Uhr des Münsters schlug ein Mal. Christian blieb auf dem Bürgersteig stehen. Er machte einen Schritt auf Angela zu und berührte ihre Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Ganz von selbst schlangen sich da ihre Arme um seinen Nacken. Als Christian sie fest an sich drückte, stöhnte sie leise auf.
Die Spannung, die den ganzen Abend zwischen ihnen geknistert hatte, entlud sich nun in ihren leidenschaftlichen Küssen. Das Gefühl, von diesen starken Männerarmen umschlungen, von diesen sinnlichen Lippen geküsst zu werden, Christians raue Stimme an ihrem Ohr zu hören, seinen heißen Atem an ihrem Hals zu spüren, all das raubte ihr auch noch den letzten klaren Gedanken. Ihr Verstand schaltete sich aus und überließ ihrem Körper die alleinige Entscheidungsgewalt. Ohne Christian näher zu kennen, fühlte sie sich ihm so vertraut wie noch keinem Mann zuvor. Die Sehnsucht nach einer Berührung von ihm wollte sie zerreißen.
Es muss sein, dachte sie wie betäubt. Es soll so sein. Ganz gleich, wie ich danach darüber denken werde. Nur einmal erleben, wie die Liebe sein kann, die Liebe mit diesem Mann.
»Können wir uns morgen wiedersehen?«, fragte Christian.
Er hielt sie ein Stück von sich weg, sodass sie sich ansehen konnten. »Oder vielmehr heute?«, fügte er mit dem jungenhaften charmanten Lächeln hinzu, das sie vom ersten Augenblick an verzaubert hatte.
Womit hatte sie diesen Mann verdient?
»Ja, gern«, antwortete sie ein wenig atemlos.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
Oje, sie musste nach Hause. In wenigen Stunden musste sie schon aufstehen. Das Sonntagsfrühstück war ihren Eltern heilig.
»Du musst fahren, gelt?« Sichtlich enttäuscht sah er sie an.
Sie nickte.
»Wann morgen?«
Sie wusste es nicht. Was lag denn überhaupt am Sonntag bei ihr an?
»Können wir telefonieren?«, fragte sie.
»Klar. Gibst du mir deine Nummer?« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, so zärtlich, so behutsam, als würde es aus zerbrechlichem Porzellan bestehen.
Dieser Mann beherrschte wirklich jede Spielart. Heißblütig und leidenschaftlich genauso wie zart und beschützend, eine Mischung, die ihr Blut wieder hoch kochen ließ. Trotzdem musste sie jetzt fahren, aber wenn sie sich ja morgen oder vielmehr heute wiedersehen würden …
Auf dem Rückweg nach Ruhweiler lächelte Angela die ganze Zeit voller Seligkeit vor sich hin. Sie wusste ganz sicher, dass für sie eine neue Lebensphase begonnen hatte, eine schönere, glücklichere als die der beiden vergangenen Jahre.
*
Zum ersten Mal seit langer Zeit wachte Angela an diesem Sonntagmorgen ohne Kopfschmerzen oder andere Beschwerden auf. Und das nach nur drei Stunden Schlaf. Der Abend hatte ihr gutgetan. Immer noch spürte sie das Adrenalin in ihrem Körper, das die Begegnung mit Christian in ihr frei gesetzt hatte. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihm gab ihr neue Energie.
Sie sprang unter die Dusche und war, wie immer, die Erste in der elterlichen Wohnküche. Vor sich hin summend stellte sie die Kaffeemaschine an und deckte den Tisch. Dann erschienen ihre Eltern, ebenfalls gut gelaunt. Das schöne trockene Wetter wirkte sich schmerzstillend auf die Arthrose ihrer Mutter aus. Als Letzte kam natürlich Jenny zum Frühstück. Wie immer ziemlich maulig und übel gelaunt.
»Wenigstens sonntags könntest du mal die Aufgabe übernehmen, für uns Frühstück zu machen«, sagte ihr Vater in mahnendem Ton zu seiner jüngeren Tochter.
»Warum?« Jenny sah ihn trotzig an. »Angela hat darin mehr Übung. Dann mache ich ja doch alles falsch, und sie meckert an allem herum.«
Normalerweise hätte Angela sich in solchen Momenten verteidigt, aber jetzt schwieg sie lieber. Sie wollte die Atmosphäre nicht vergiften. Und sie fühlte sich viel zu sehr mit sich im Reinen, als dass Jennys Verhalten sie an diesem sonnigen Morgen berühren konnte.
»Wie war´s denn gestern bei Claudia?«, erkundigte sich ihre Mutter lächelnd.
»Es muss toll gewesen sein«, kam ihre Schwester ihr in der Antwort