sie bis in den Schlaf und am Morgen wachte sie wieder mit ihm auf. Und auch jetzt war sie so vertieft, dass sie das Klopfen an ihrer Zimmertür nicht hörte.
»Was gibt’s denn da draußen so Spannendes zu sehen?«, fragte Felix, der schließlich einfach hereingekommen war.
Erschrocken zuckte Anneka zusammen und fuhr zu ihm herum.
»Wegen dir bekomm ich irgendwann nochmal einen Herzinfarkt.«
»Da ist es doch ungemein praktisch, dass wir in einem Arzthaushalt leben und dich jederzeit wiederbeleben können. Findest du nicht?«, fragte er frech grinsend und setzte sich auf die Schreibtischkante. Sein forschender Blick ruhte auf seiner Schwester.
»Einfacher wäre es, wenn du dir mal Manieren angewöhnen und anklopfen würdest«, erwiderte Anneka unbarmherzig.
»Aber ich hab doch angeklopft«, empörte sich Felix. »Vielleicht solltest du mal einen Termin bei Dad ausmachen, um dir mal in die Ohren schauen zu lassen.«
»Schon okay, meinen Ohren geht’s gut«, winkte Anneka ab. »Vielleicht hab ich’s wirklich nicht gehört«, räumte sie zum großen Erstaunen ihres Bruders friedfertig ein.
Irritiert legte Felix den Kopf schief.
»Was ist denn mit dir los? Bist du krank?« Die Sorge in seiner Stimme war so echt, dass Anneka lachen musste.
»Nein. Mir geht’s gut«, versicherte sie und wurde unter seinem forschenden Blick rot.
»Aber irgendwas stimmt nicht … du bist so verändert … War die Klassenfahrt nicht schön?«
»Doch, doch, die war in Ordnung.«
»Dann hab ich nur noch eine Idee«, sagte Felix seiner älteren Schwester schließlich auf den Kopf zu.
»Und zwar?«
»Du bist verliebt.«
Eine verräterische Röte schoss Anneka in die Wangen, und sie versuchte zu leugnen.
»Unsinn …Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie fast ein wenig unfreundlich und beugte sich tief über den Block, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
»Verliebtheit wird definiert als starkes Gefühl der Zuneigung. Psychologen gehen davon aus, dass sie mit einer Einengung des Bewusstseins einhergeht«, erklärte Felix mit gewichtiger Miene und hoch erhobenem Zeigefinger. »Das würde auch erklären, dass du mein Klopfen überhört hast.«
»Woher weißt du das denn so genau?«, platzte Anneka überrascht heraus.
Ein verlegenes Lächeln spielte um Felix’ Mundwinkel, und er überlegte kurz, ob er seiner Schwester die Wahrheit sagen sollte. Aber wem sonst wenn nicht seiner engsten Vertrauten?
»Na, weil’s mir doch genauso geht. Ich hab mich tatsächlich in Elena verliebt«, gab er schließlich zu. »Hast du mir ihre Telefonnummer besorgt?«, erinnerte er seine Schwester an ihr Versprechen.
»Natürlich!« Triumphierend bückte sich Anneka nach ihrer Tasche und zog einen kleinen, zusammengefalteten Zettel hervor und hielt sie Felix vor die Nase. »Ich halte meine Versprechen.«
»Danke, du bist ein Schatz!«. Strahlend nahm er die Nummer in Empfang und rutschte von der Tischkante. Endlich konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen und seine Flamme zu dem Hallenfußballspiel einladen, das am kommenden Wochenende stattfinden sollte. »Dafür verrate ich auch niemandem, dass du in Leon verliebt bist«, erklärte er auf dem Weg zur Tür.
»Wie bitte?«, platzte Anneka verwirrt heraus. »Woher weißt du das denn schon wieder?«
Vielleicht kann ich hellsehen. Oder Gedanken lesen. Felix dachte gar nicht daran, seine Informationsquelle preiszugeben, und verließ unter Annekas ungläubigem Blick das Zimmer. Erst als sie sich umdrehte und sich seufzend wieder über den Block beugte, bekam sie die Antwort auf ihre Frage: In schön geschwungenen Buchstaben stand dort der Name ›Leon‹, eingerahmt von lauter großen und kleinen Herzchen.
»O Mann, Felix hat recht. Liebe schränkt den Horizont wirklich ein«, murmelte sie und riss das Blatt vom Block, um es mit glühend roten Wangen in der untersten Schublade ihres Containers zu verstauen.
*
Am diesem Nachmittag war keine Sprechstunde in der Praxis Dr. Norden, sodass Daniel die Patienten besuchen konnte, die zu schwach oder zu krank waren, um zur Behandlung zu ihm zu kommen. Danny hingegen nutzte an diesem Nachmittag die Gelegenheit, um in die Behnisch-Klinik zu fahren und diejenigen Patienten aufzusuchen, die zur Weiterbehandlung überwiesen worden waren. Neben anderen stand dort ein erfreulicher Termin bei einem Patienten auf dem Programm, dessen Leben durch die Beharrlichkeit des jungen Arztes gerettet worden war.
»Hallo, Herr Bogner«, begrüßte Danny Norden den Familienvater, der bequem im Klinikbett saß und in einer Zeitschrift blätterte. Als er ans Bett trat, legte Lorenz Bogner das Magazin sofort zur Seite und nahm die Lesebrille ab.
»Herr Norden, wie schön, dass Sie mich besuchen kommen«, freute er sich ganz offensichtlich über den Besuch. »Jetzt hab ich endlich Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken.« Seine Stimme war heiser und ein wenig schleppend, doch das schien ihn nicht sonderlich zu stören.
»Aber das ist doch nicht nötig«, versicherte Danny und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Wie fühlen Sie sich?«
»Nicht nötig? Sie machen mir Spaß!«, ging Lorenz Bogner gar nicht auf die Frage seines Arztes ein. »Wenn Sie sich nicht so viele Gedanken über meinen plötzlichen Bluthochdruck und die komische Heiserkeit gemacht hätte, wäre ich heute nicht mehr am Leben.« Mit dieser Behauptung hatte er recht.
Nach einer wahren Odyssee durch verschiedene Arztpraxen war der Mann schließlich bei Danny Norden gelandet, der einen Zusammenhang zwischen dem Bluthochdruck und der seltsamen Heiserkeit festgestellt hatte. Eine einfache Untersuchung der Stimmbänder hatte eine Lähmung des linken Stimmbandes ergeben. Eine von Danny angeordnete Computertomographie bestätigte schließlich den Verdacht.
»Eigentlich hätte jeder andere Arzt das Aortenaneurysma genauso diagnostizieren können. Immer, wenn Ihr Blutdruck in die Höhe schnellte, drückte die ungesund erweiterte Schlagader den linken Stimmbandnerv ab. Deshalb wurden Sie heiser«, stellte Danny nachdenklich fest. »Das zu erkennen, war kein Kunststück.«
»Aber Sie waren der einzige, der sich die Zeit genommen und mal über die Anatomie des menschlichen Körpers nachgedacht hat«, ließ sich der Patient nicht beirren.
Danny lächelte.
»Ich bin jedenfalls froh, dass das erweiterte Stück der Hauptschlagader erfolgreich durch eine Prothese ersetzt werden konnte und der Nerv dadurch jetzt nicht mehr strapaziert wird.«
»Das bin ich auch. Vor allen Dingen aber bin ich froh, dass Sie das Aneurysma gefunden haben. Wenn es geplatzt wäre, wäre ich eines Tages einfach tot umgefallen.« Dieser Gedanke ließ Lorenz noch im Nachhinein erschauern.
Diese Vorstellung wollte Danny gar nicht zulassen.
»Es ist ja zum Glück alles nochmal gut gegangen«, lächelte er zufrieden. »Wie geht es jetzt bei Ihnen weiter?«
»In ein paar Tagen kann ich mit der Sprachtherapie anfangen. Dann ist von der vorübergehenden Stimmbandlähmung auch bald nichts mehr zu hören«, konnte Lorenz von den Plänen der Ärzte berichten.
Danny freute sich, seinen Patienten so munter und optimistisch zu sehen, und erhob sich. Das Stichwort ›Therapie‹ hatte ihn wieder an die Aufgabe erinnert, die ihm noch bevorstand und der er mit gemischten Gefühlen entgegensah.
»Dann weiterhin gute Besserung! Wir sehen uns dann zur Nachsorge«, verabschiedete er sich freundlich und verließ das Krankenzimmer und machte sich auf den Weg zu Lilly Seifert.
Unterwegs dachte er darüber nach, wie er der Physiotherapeutin erklären sollte, dass er die Therapie abbrechen würde. Sollte er die Wahrheit sagen und sich über ihre unangebrachten Annäherungsversuche beschweren? Oder sollte er eine diplomatische Lösung wählen, die sie beide