und Goethe. Nun traf es sich gleichzeitig (1837), dass Goethe in und von Frankfurt das erste Denkmal errichtet und dass in Königsberg die erste Gesamtausgabe der Werke Kants durch Karl Rosenkranz und Wilhelm Schubert veranstaltet werden sollte. In jeder der beiden Angelegenheiten ergriff Schopenhauer das Wort, aus freien Stücken, aus rein sachlichem und sachkundigem Eifer.
Über das Goethe-Monument richtete er an das neu gegründete Komitee ein »Gutachten«, worin er die Beweggründe seiner Ratgebung, die leitenden Grundsätze, den Plan und die Ausführung des Denkmals darlegte. Es sei zu verhüten, dass der Unverstand und Ungeschmack öffentliche und kostbare Werke verunstalte. In der Inschrift des neuen Bibliothekgebäudes habe man in vier lateinischen Worten drei Fehler gemacht175; in der Städel’schen Sammlung seien die roten und gelbroten Wände in den Sälen der vortrefflichen Gipsabgüsse ein Zeugnis der Geschmacklosigkeit und Barbarei. Das zu errichtende Denkmal müsse erhaben sein, darum einfach. Männer, welche die Welt durch ihr Genie, d. h. durch die Werke des Kopfs erleuchtet haben, wie die Denker und Dichter, seien der Nachwelt nicht durch Statuen, sondern durch Büsten zu vergegenwärtigen, so haben es in der Regel die Alten und in der neuen Zeit die Italiener gehalten, die darin den richtigen Geschmack zeigen im Gegensatz zu den Engländern und Deutschen. Die Büste Goethes auf einem angemessenen Postament, von hohen schattigen Bäumen umgeben, möge so kolossal sein, wie die Mittel es erlauben, die Inschrift sei lakonisch: »Dem Dichter der Deutschen seine Vaterstadt 1838«. Keine Silbe mehr! Der Name, der sonst immer genannt wird, werde hier nicht genannt, er versteht sich von selbst. Eben dadurch ehre man den einzigen Mann auf eine einzige Weise. – Er hatte diesen Rat erteilt, »mit vollkommenster Resignation darin ergeben, dass er unberücksichtigt bleiben werde, wie dies dem Weltlauf gemäß und in der Ordnung« sei. Der Weltlauf hat recht behalten.
Es ist sonderbar genug, dass sich nirgends eine Angabe darüber zu finden scheint, wann Schopenhauer die erste Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft kennen gelernt hat, die ihm völlig unbekannt war, als er seine Kritik der kantischen Philosophie schrieb und seinem Hauptwerk einverleibte. Diese Kritik gründete sich auf die zweite oder, was in der Sache gleichbedeutend ist, fünfte Auflage des Werks (1799). Zwar hatte Fr. Heinr. Jacobi schon im Jahre 1815 auf den beträchtlichen Unterschied der beiden Ausgaben, die Weglassungen in der zweiten, die Vorzüge der ersten und die Seltenheit ihrer Exemplare sehr nachdrücklich aufmerksam gemacht, aber diese Belehrung hat Schopenhauer nicht gekannt, sonst würde er wohl darauf hingewiesen haben. Ich vermute, dass er die Vernunftkritik vom Jahre 1781 erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1829 gelesen hat, als er so eifrig mit dem Plan umging, das Werk ins Englische zu übersetzen. Zu diesem Zwecke musste er die beiden Ausgaben vergleichen.
Jetzt zeigte sich, dass seine Kritik auf die erste Ausgabe passte wie die Faust aufs Auge. In der Widerlegung der rationalen Psychologie hatte die erste Ausgabe die durchgängige Idealität der Körperwelt (d. i. die idealistische Grundansicht) auf das unzweideutigste ausgesprochen und die Unmöglichkeit der ganzen Lehre von der Substantialität oder Wesenheit, der Einfachheit, Unkörperlichkeit und der ihrer selbst gewissen Realität der Seele bewiesen. Von diesen Ausführungen aber waren die wichtigsten in der zweiten Auflage weggelassen worden, nicht weniger als 57 Seiten; dagegen fand sich eine »Widerlegung des Idealismus«, die in der ersten Auflage fehlte. Jene Weglassung glich dem amputierten Bein, diese Hinzufügung dem hölzernen. Schopenhauer fand, dass die Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Ausgabe ein sich selbst widersprechendes, verstümmeltes, verdorbenes Buch geworden sei und einen gewissermaßen unechten Text biete. Die neue Widerlegung des Idealismus sei »so grundschlecht, so offenbare Sophisterei, zum Teil sogar so konfuser Gallimathias, dass sie ihrer Stelle in dem unsterblichen Werke ganz unwürdig erscheine. Kants eigene Verschlimmbesserung habe das Missverstehen der Kritik, welches Anhänger und Gegner sich gegenseitig vorwerfen, zur Folge gehabt, denn wer könne verstehen, was widersprechende Elemente in sich tragen?
Zweifache Furcht habe den Königsberger Philosophen zu einer solchen Verunstaltung seines Werks bewogen: einmal die Besorgnis für die eigene Originalität, da man seine Lehre in ihrer ursprünglichen Gestalt für Berkeley’schen Idealismus erklärt hatte, dann wegen der Zerstörung der rationalen Psychologie die Angst vor dem Nachfolger Friedrichs des Großen und seiner Regierung. So richtig Schopenhauers Urteil über die Verschiedenheit und den Wert der beiden Ausgaben ist, so unrichtig ist seine Ansicht von dem Charakter, der Altersschwäche und Untertanenfurcht Kants.
Die volle Übereinstimmung seiner eigenen Lehre und ihrer idealistischen Grundansicht mit der kantischen Vernunftkritik in ihrer eigentlichen und wahren Gestalt musste jener zur Hebung gereichen. Deshalb lag ihm so viel daran, dass in der ersten Gesamtausgabe der Werke Kants die Kritik der reinen Vernunft vom Jahre 1781 als der Grundtext behandelt werde. Zu diesem Zwecke richtete er den 14. August 1837 an Karl Rosenkranz, den philosophischen Mitherausgeber, einen der angesehensten Schüler Hegels, ein ausführliches Schreiben, worin er die beiden Ausgaben verglich und mit allen den Gründen, die schon erörtert sind, die Bedeutung der ersten ans Licht stellte. Die Herausgeber haben seinen Rat befolgt und mit einigen kleinen, unmotivierten Auslassungen und Änderungen sein Schreiben abdrucken lassen.176
4. Zwei Preisschriften. Die Grundprobleme der Ethik
Die schriftstellerischen Pläne des Philosophen blieben auf die Erneuerung seines Hauptwerks gerichtet, das der Vermehrung und Ergänzung, auch in manchen Punkten neuer Begründungen und Erläuterungen bedurfte. Der dazu angesammelte Ideenvorrat lag bereit; die jüngste Schrift »über den Willen in der Natur« war dem zweiten Buch, welches die Lehre von der »Objektivation des Willens« enthielt, zustatten gekommen. Nun würde es sich auf das beste gefügt haben, wenn er eine solche dem Hauptwerk dienende und doch von ihm unabhängige Schrift auch zu dem vierten Buch, welches die Lehre von der »Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben bei erreichter Selbsterkenntnis« d. h. die Ethik enthielt, hätte schreiben können.
Da kam es ihm wie gerufen, dass eben jetzt zwei skandinavische Akademien Preisaufgaben verkündet hatten, welche die Grundfragen der Ethik betrafen und mit dem Thema seines vierten Buchs auf das genaueste zusammenhingen. Die königlich norwegische Sozietät der Wissenschaften zu Drontheim hatte gefragt: »Num liberum hominum arbitrium e sui ipsius conscientia demonstrari potest?« Deutsch nach Schopenhauer: »Lässt die Freiheit des menschlichen Willens sich aus dem Selbstbewusstsein beweisen?«
Die königlich dänische Sozietät der Wissenschaften zu Kopenhagen hatte nach einer vorangeschickten, weitläufigen und unklaren Einleitung die Frage aufgestellt: »Philosophiae moralis fons et fundamentum utrum in idea moralitatis, quae immediate conscientia contineatur, et ceteris notionibus fundamentalibus, quae ex illa prodeunt, explicandis quaerenda sunt, an in alio cognoscendi principio?« Deutsch nach Schopenhauer: »Ist die Quelle und Grundlage der Moral zu suchen in einer unmittelbar im Bewusstsein (oder Gewissen) liegenden Idee der Moralität und in der Analyse der übrigen, aus dieser entspringenden moralischen Grundbegriffe, oder aber in einem andern Erkenntnisgrund?« Die Frage der norwegischen Akademie ging auf die Freiheit des Willens, die der dänischen auf die Grundlage der Moral. Die Verkündigung der ersten hatte in der Hallischen Literaturzeitung vom April 1837, die der zweiten in derselben Zeitschrift vom Mai 1838 gestanden. Dort hatte sie Schopenhauer gelesen.
Die Abhandlung über die menschliche Willensfreiheit mit dem Motto: »La liberté est un mystère« wurde in Drontheim den 26. Januar 1839 mit dem ersten Preise gekrönt und der Verfasser zugleich zum Mitglied der königlich norwegischen Sozietät der Wissenschaften ernannt. Es war die erste öffentliche Anerkennung, die dem einundfünfzigjährigen Mann zuteil wurde. Die deutsche Zuschrift der Akademie beantwortete er in einem lateinischen Danksagungsschreiben (28. September 1839), worin er das Wort Petrarcas auf sich anwandte: »Si quis toto die currens pervenit ad vesperam, satis est«. Er hat dieses Wort, das Motto seiner Spicilegia, oft gebraucht und sich damit getröstet: »Wenn einer den ganzen Tag über läuft und gegen Abend ans Ziel gelangt, so ist es genug«.
Als er die Abhandlung nach Drontheim gesandt hatte, ging er sogleich an die Bearbeitung des dänischen Themas. Sobald er die Nachricht von der Krönung der Schrift und seiner Erwählung zum Mitglied der Sozietät erhalten hatte (Februar 1839), schickte er die neue Abhandlung nach Kopenhagen, mit dem seinem Buch »über den Willen in der Natur« entlehnten Motto: