Nicolaus Cusanus

Philosophische und theologische Schriften


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jedoch alle Perspektiven so zugeschnitten sein müssen, daß der Verstand, wenn auch in alteritate, als zentral für das Verstehen unumgänglich erscheint, läßt sich die Regionentheorie des Cusanus als Bewegung des Begriffs in der Bildung sowie in der Vermittlung des Individuellen und Allgemeinen dahingehend begreifen, daß in ihr nicht nur verschiedene Mikrokosmen zu Wort kommen, sondern daß zuvor noch der Kontext eine Erweiterung erfährt, die sich der Reflexion auf die jeweiligen Bedingungen verdankt. An Hegel erinnernd, zeigt sich in der Denkweise des Cusanus eine Bewegung des Begriffs, die sich in dynamischer und dialektischer Intention aus dem Denken selbst ergibt. Die Rationalität bezieht ihre Plausibilität aus den Axiomen der Logik, die Intellecualität bezieht ihre Plausibiliät aus der Beschränkung rationaler Bestimmungen, die trans-intellectuale visio dei erfährt ihre Perspektive aus dem Absoluten, das sich keiner – stets defizienten – Beschreibung unterziehen läßt. Bezüglich der Cusanischen Regionentheorie des Erkennens liegt ein durch regulative Ideen aufgehobener Prozeß des Geltungs- und Wahrheitsbereiches für alle Stufen des Geistes vor, weshalb dieser Prozeß sich auch als eine Bewegung des Begriffs in der Bildung zur Weisheit (sapientia) beschreiben läßt, die jeden erreichten Mikrokosmos zugunsten eines erweiterten Weltbildes verlassen kann, aber dabei nie zu einem sicheren und abschließbaren Ende (veritas), sondern wieder nur zu einem anderen Paradigma neuer aenigmata kommt.

      Die nicht artikulierbare Affirmation der sensatio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Subjekt-Objekt-Dichotomie, ohne diese selbst erkennen zu können. Die artikulierbare Differenz der ratio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Unterscheidungs-Dichotomie, ohne auf dieses Schema reflektieren zu können. Die nicht artikulierbare Oppositionskoinzidenz des intellectus als docta ignorantia verweilt in ihrem Abstand zur visio dei an deren Grenze – jeweils in alteritate – und begreift von dort aus das Sein als ein Eingeteilt-Sein für den Verstand. Daraus folgt für Cusanus eine funktional-ontologische Dynamik, die in direktem Zusammenhang mit der epistemologischen Dimension geistiger Bewegungen als endlicher Vernunft zu sehen ist. Endlich bleibt jeder Wahrheitsanspruch auf jeder Stufe der Erkenntnis und innerhalb von deren jeweils perspektivisch bedingtem Mikrokosmos, der sich zwar erweitern läßt, aber nicht zur Verabsolutierung der jeweilig internen Konjekturen führen kann. Einzig auf der transsumptiven Grenze sind qualitative Verschiebungen möglich, die zugleich den Geltungsbereich ihrer Herkunft – d. h. die Bedingungen der Erkenntnis in statu nascendi – reflektiert hinter sich lassen können. Sowohl im Ascensus als auch in Descensus erscheint der Geist als »mens« in seiner beweglichsten Form, aber eben auch nur als Form des Denkens überhaupt. Die sich dabei vollziehende Dialektik gibt sich jedoch weder als Idee noch als Form, noch als Methode zu verstehen, sondern als ein Prozeß, den das dynamische Denken selbst vollzieht, indem es die eigene Spekulation der Vernunft verstandesaffin artikuliert. Oder, mit Hegel gesprochen: »Die Spekulation versteht … den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation«26.

      Dieser Unterschied zwischen Verstand und Vernunft, zwischen empirischer Rationalität und reflektierter Spekulation findet sich bereits bei Cusanus als Dialektik angelegt, wenn die jeweils höhere Stufe des Geistes aus der jeweils niedrigeren Stufe hervorgeht. Es liegt somit auf der Hand, daß sich der Wahrheitsanspruch im Vollzug des geistigen Auf- und Abstiegs mit verändert, da via reflexionis auch die Fragestellungen (z. B. der rationalen Empirie gegenüber der Reflexion auf deren Bedingungen des Verstandes) nicht dieselben bleiben. Denn auf der Ebene der sensationes liegen keine Unterschiede vor, weshalb dieser Region alles als gleich wahr erscheint (w/w), da sich die Frage nach der Wahrheit hier noch nicht stellt. Auf der Ebene des Verstandes gelangt man via negationis zu entweder wahren oder falschen Urteilen (w/f) und damit auch zu einem rationalen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit in Form von logischer Richtigkeit zur Anwendung bringt. Die Frage nach dem Wahrheitsmodell des Verstandes stellt sich erst auf der Ebene der Vernunft, in welcher sich die Oppositionskoinzidenz auf der Basis der docta ignorantia begreifen läßt.

      Auf dieser Stufe der Reflexion wird die rational konstruierte Unterscheidung von wahr und falsch selbst hinfällig, weshalb aus dieser Perspektive alle Theorien gleichermaßen »falsch« sein müssen (f/f). Maß und Gemessenes finden immer nur zu einer pragmatischen Einteilung von hypothetisch hinreichender Plausibilität, die niemals mit der in ihr beanspruchten Wahrheit verwechselt werden darf. Dem Verstand ist der Pragmatismus fremd, der in der Vernunft zu einem Wahrheitsbegriff der Plausibilität durch (rational gesehen) »falsche«, wenn auch zweckmäßige Urteile gelangt. Da sich für die Stufe der visio dei, in der sich alles eingefaltet sowie für den Geist unerreichbar zeigt, die Frage nach der Wahrheit nicht stellt, sind in ihr – wie in der sensatio – alle Bereiche des Absoluten gleich »wahr« oder gleich »falsch« (w/w oder f/f – bzw. weder w noch f) oder liegen bereits außerhalb dieser Art von Einteilung, aus der sich folgende Regionalisierung mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen bezüglich Wahrheit und Falschheit auf Verstandesebene ergibt:

      deus (weder w noch f – bzw. w/w oder f/f)

      intellectus (w und f)

      ratio (w oder f)

      sensatio (w und w)

      Dem erkennenden Geist bleiben somit nur die beiden (›mittleren‹) Regionen des Mentalen auf den Stufen des Verstandes und der Vernunft zugänglich, wobei erstere im Bereich der (z. B. empirischen) Wissenschaft stattfindet, während letztere im Bereich der reflektierenden Philosophie anzutreffen ist. Die noch nicht eingeteilte und speziell für die Ratio spezifizierbare Sinnlichkeit regt den Verstand zu seinen Unterscheidungen an, woraus sich dessen Affektion durch die Sinnlichkeit ergibt, die rational zu ordnen Aufgabe für den hierfür zuständigen Verstand ist, während die Vernunft auf das Schema des Verstandes reflektiert und von der visio dei ihre Anregung zum Transscensus bezieht. Ascensiv stellen sich alle Regionen in grenzüberschreitend motivierter Aufhebung von defizienten Wahrheitsansprüchen vor, descensiv bieten alle Regionen an der jeweils unteren Grenze einen Sprung über deren jeweils höchste Form sowie zugleich über deren Defizienz auf. Dabei werden die Ebenen der sensatio und des deus als grenzbegriffliche Bereiche gedacht, die in der Reflexion auf die visio dei keinen Unterschied mehr aufweisen können.

      Nur der analytisch artikulierte Verstand traut sich die Anmaßung zu, zwischen wahren und falschen Urteilen unterscheiden zu können, obwohl es ihm hierfür an der Kraft zur Bildung synthetischer Urteile (im Sinne Kants) mangelt. Die Vernunft hingegen kann den Wahrheitsbegriff des Verstandes als dogmatische Position begreifen, die nur ihre eigene Perspektive der Wahrheit kennt und diese Schablone (w /f) an alles heranträgt, was sie umgibt. Insofern wird die Vernunft zwar vom Verstand affiziert, findet jedoch in der Imagination einer visio dei die korrelative Funktion ihrer eigenen Vorgehensweise. Und solchermaßen sind alle Regionen aufeinander verwiesen, was sogar bezüglich der untersten und der obersten Stufe zu einer »Deckungsgleicheit« des Wahrheitsbegriffs (w/w) führt, während die espistemologische Schlacht auf dem Feld zwischen Verstand und Vernunft geschlagen wird. Und auch in den Resultaten finden sich ihre Unterschiede von der Art, daß die Vernunft zwar den Verstand begreift, der Verstand aber die Vernunft nicht versteht. Denn die Vernunft ist in der Lage, ihre Reflexion auf die dominante Relevanz plausibel etablierter Isolate und deren Differenzierungen zu richten, da sie sich an deren Herkunft aus ihr selbst zu erinnern vermag. Dem Verstand hingegen werden nur ontologisierte Substrate sichtbar, die er von okkulter Vernunft oder fremder Natur zu kennen glaubt, deren Autorschaft hingegen aus seinem Gedächtnis gewichen ist. Solchermaßen gelingt es, dem Verstand zur Vernunft zu verhelfen, ohne die Vernunft um den Verstand zu bringen.27

      Analog zu den Ausführungen des Cusanus über das Verhältnis von Verstand und Vernunft, bei dem sich zeigt, daß die Vernunft als Reflexionsinstanz gegenüber dem Verstand fungiert, läßt sich auch später bei Kant zeigen, daß der Verstand mit einer Erkenntnisrestriktion ausgestattet ist, während die Vernunft über ihn hinaustreibt und dabei zwar keine konstitutive, aber eine regulative Funktion aufweist, wobei die Kritik (der reinen Vernunft – als genitivus subiectivus und als genitivus obiectivus zu lesen) als ein »Experiment« der Vernunft mit sich selbst aufgefaßt wird: Die »Vernunft« soll »selbst ihr eigener Schüler sein«28. In diesem Experiment wird die Vernunft