Nicolaus Cusanus

Philosophische und theologische Schriften


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der Ebene der (translogisch-suprarational) reflektierenden Vernunft verfügt der Geist über die Beweglichkeit, die ihre eigene Begrenzung wiederum im göttlichen »Denken« oder »Schauen« findet und zugleich mit dem Verstand in Verbindung stehen bleibt. Der Verstand kann also zur Vernunft kommen, ohne daß die Vernunft um den Verstand gebracht würde, wobei der geistige Trans- und Deszensus auch diese beiden Bereiche zu überhöhen und reflexiv zu unterlegen vermag. Im aufeinander verwiesenen Verhältnis von ratio und intellectus kommt die dynamische Erkenntnisfähigkeit des Geistes zunächst darin zum Ausdruck, daß sie wegen ihrer Differenz zum absoluten Wissen und in Distanz zum unbestimmt Sensualen im Bereich von Mutmaßungen und Hypothesen (d. h. von Konjekturen6) verbleibt: »Coniectura est positiva assertio veritatis in alteritate, uti est, participans. «7

      Die konjekturale Wahrheitserkenntnis stellt mithin keine Verlorenheit im Chaos völliger Beliebigkeit dar, sondern weist die Fähigkeit auf, im Entwerfen von Theorien ihren eigenen Ursprung und ihre Grenzen zu sehen, die sie allerdings selbst gezogen hat. Sie muß sich zwar notwendig diskursiv ausdrücken, sprengt aber diese Diskursivität kraft ihres transsumptiv-reflexiven Wissens darum, was es damit auf sich hat. Konjekturales Wissen bleibt symbolisches bzw. aenigmatisches Erkennen, indem darin der dynamische Prozeß »zusammenwerfender« (con-iacere/sym-ballein) Synthesis von angemessenen und in der Koinzidenz sich einander anmessender Termini vonstatten geht. Und sobald alles Sein als ein bloßes Eingeteilt -Sein begriffen wird, heben sich seine ontologische Dignität und seine bloß rational verstandene Objektivität auf, deren Moment und Movens im Geist durch seine Subjektivität als Konstituens des Objektiven bzw. als ein genuin Vor-Gestelltes erscheint. Dabei kann der Erkenntnisprozeß des menschlichen Geistes als eine ›phaenomenologia mentis‹ im Unterschied zu einer ›phaenomenlogia entis‹ charakterisiert werden.

      Innerhalb einer Erscheinungsweise des Geistes betont Cusanus insbesondere das Moment des Kreativen, wenn er die Mutmaßung als eine geschaffene Einsicht (»creata intelligentia«) vorstellt, die von begrenzter Wirklichkeit sei. Die Mutmaßung drückt also eine subjektive Schöpfung in einer Behauptung aus und erhebt damit einen perspektivisch begrenzten Wirklichkeitsanspruch (als »esse respectu ad …«8). Die Konjektur ist zwar in ihrer Schöpfung verschieden vom göttlichen Schaffen, aber sie läßt doch eine Analogie zum Göttlichen zu und erhebt damit den Menschen zum »secundus deus «, zum »humanus deus«. Und dieser zweite Gott ist in seiner kreativen Potenz als menschlicher Gott gedacht – was er kreiert, schafft er auf seine Weise mit seinen Mutmaßungen und Imaginationen kraft seiner aktiven Produktivität aus seinem geistigen Blickwinkel für seine Bedürfnisse : »Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando9

      Als angemessene Angleichung leistet die kreative Vernunft durch ihre regional angrenzende und berührende Differenz zum Göttlichen in typisch Cusanischer Andersheit und zugleich notwendiger Verwiesenheit eine Ähnlichkeit der Vorgehensweise des Geistes zum göttlichen Schaffen (»in creando«). Fast schon transzendentalphilosophisch positioniert wird der menschliche Geist als mentale Instanz und als kreatives Element seiner eigenen Dynamis zwischen die Pole seiner Grenzen gespannt, für deren binnentheoretische Einlösung und Auflösung der eigenen Kompetenz eine ihn in seiner endlichen Spannkraft transzendierende Abgrenzung zu von ihm selbst nicht einlösbaren Dimensionen der Unendlichkeit hypostasiert werden muß. Die zwar endliche, aber darin vollkommen autonome Mentalität des sowohl rational verständigen wie auch intellectual vernünftigen Geistes findet ihre nach außen (»in alteritate«) begrenzte Freiheit gerade darin, daß ihr eine ins Uferlose abgleitende Entgrenzung bis hin zum Chaos der völligen Beliebigkeit erspart bleiben kann. Rationalitätskritik und Voraussetzungsreflexion der in ihre Konsequenzen reichenden Bedingungen machen demnach die Leistungen unseres Geistes in seiner mentalen Reichweite aus.

      Was Cusanus damit auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit leistet, ist eine Relativierung des mittelalterlichen Absolutheitsanspruchs und eine Verstandeskritik weit vor der Epoche der Verstandes-Aufklärung und ihrem romantischen Glauben an die rationale Omnipotenz. So betont auch Kurt Flasch, daß die Cusanische Koinzidenzlehre keine dogmatisch-doktrinale » ›Lehre‹, sondern eine ›Brille‹ (ist), die der Vernunft zu sehen gestattet, was dem Verstand verschlossen bleiben muß«10. Denn die Jagd nach der Weisheit (»De venatio sapientiae«) wäre auf der falschen Fährte, wenn sie die Wahrheit zu ihrem Ziel hätte, da sie diese niemals erreichen, obschon vielfältig intendieren kann. Die Einsicht in den Stellenwert diskursivrationaler und sprachlich-endlicher Einteilungsverhältnisse läßt somit den Mut frei, sich sowohl seines Verstandes als auch seiner Vernunft zu bedienen – quasi als göttlicher Schöpfer auf menschlicher Ebene. Veritas und sapientia sind eben nicht dasselbe!

      Im Prozeß der Ent- grenzung des Be- grenzten vollzieht sich die philosophische Reflexion durch die Vernunft als die Andersheit des Verstandes. Auf endliche Weise wird die Erkenntnis des endlichen Geistes als ein »cognoscere … mensurare est« vorgestellt, wobei der Geist selbst als »mens« die Metapher für das angemessene (mens urable) Erkennen liefert11. Dem unendlichen Weltschöpfer aus göttlicher Sicht stellt Cusanus die ›Weisen der Welterzeugung‹ aus endlicher Perspektive zur Seite und erlaubt auch dabei eine Koinzidenz »in creando«12. Mit der Koinzidenz ist »das Eintreten des Unendlichen in unser Denken aufzufassen«, wie Kurt Flasch betont, »aber daraus folgt nicht, sie sei ein Privileg ›Gottes‹ – … sondern ein Prinzip universaler Dialektik.«13 Denn mit der Kunst der Erkenntnis (»ars coniecturalis«) wird eine perspektivisch variable und pragmatisch funktionale Ontologie der Plausibilität (als »esse respectu ad«) erzeugt, deren mensurable Anmessung sofort in dogmatische Anmaßung umkippen würde, sobald die Kreationen des endlichen Geistes aus ihrer ontologischen Relativität gerissen würden.

      Dies gilt freilich auch für die Cusanische Regionentheorie des reflektierenden Geistes und seiner prozeduralen Erkenntnis selbst, deren interne Einteilungen symbolisch angesonnene »aenigmata« konjekturaler Herkunft als Funktionen innerhalb einer dynamischen Einheit darstellen und keinerlei ontologische Dignität aufweisen. Als gnoseologisch verstandene Regionentheorie erlaubt sie vielmehr selbst einen Transzensus in die »Idee des Koinzidierens« hinein, die Hegel als »den Gehalt der Philosophie« bezeichnet hat.14 In ihr kommt eine Einsicht zum Ausdruck, die sich als »docta ignorantia« ohne Doktrin, als belehrte Unwissenheit ohne dogmatische Standpunktanmaßung und als perspektivische Endlichkeit zu erkennen gibt. Als ihrerseits schematisches Symbol leistet die Regionentheorie des Cusanus einen Hinweis auf den transsumptiv-dialektischen Bildungsprozeß, in welchem die stets reversible Plausibilität pragmatischer Entwürfe für die Endlichkeit des menschlichen Wissens angemessener als die Anmaßung auf absolute Wahrheit erscheint.

      In Dimensionen der Koinzidenz herrscht ein anderer Wahrheitsbegriff als im Bereich des Verstandes, weshalb eine Erkenntnistheorie des Rationalismus auch in seiner als ›kritisch‹ propagierten Version mit inkommensurablen Mitteln operiert. Die Substitution der Wahrheit oder die Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs durch den pragmatischen Relativismus einer reflektierten Plausibilität mag zwar zunächst anstößig für die wissenschaftliche Forschungslogik wirken. Sie stellt jedoch nur eine positive Bestimmung der belehrten Unwissenheit als Einsicht in die Unmöglichkeit letztbegründbarer Wahrheit dar, wenn im intellectualen Transcensus über die Ratio alles beweisbare Wissen aufhört und die Kunst des koinzidierenden Begreifens im Nichtwissen beginnt. Dann empfiehlt es sich, auch den Status der Wahrheit neu zu bestimmen und ihn als plausibles Kompliment an metaphorisch riskante Konjekturen anzupassen. Damit würde zumindest der dialektische Erkenntnisprozeß der Philosophie gegen die Attacken positivistischer und rationalistischer Korrespondenztheorien der Wahrheit geschützt. Denn die »coniectures« des reflektierenden Geistes können nur auf Zustimmung oder Ablehnung, auf Plausibilität oder Implausibilität, aber niemals auf »reputationes« durch eine Verstandeskritik via falsificationis stoßen. Falsifikationen bleiben intern-relationale Kalkulationsfehler der Ratio und finden keine externen Strukturen vor, an denen ein Scheitern auch nur möglich wäre. Vielmehr scheitern alle rationalen Kriterien am verstandesexternen Bereich der Vernunft, die durch solche Klassifikationsdifferenzen