Verkehr auf den Straßen. Doris fühlte dankbar seine Zurückhaltung. Ihr Gemüt war in wirrem Aufruhr. Sie war jetzt verheiratet – diese eine Tatsache nahm alle ihre Gedanken in Anspruch –, verheiratet mit einem Mann, den sie zwar ganz gern hatte, den sie aber nicht liebte. Sie war mit einem Mann verheiratet, den ein anderer für sie ausgesucht hatte, zum Teil gegen ihren Willen. Sie sah ihn heimlich an. Auch er war in einer gedrückten, freudlosen Stimmung. Das war ein aussichtsreicher Anfang ihrer Ehe! Wie würde alles enden?
Der Wagen hielt vor einer düsteren Granitfassade, und sie stiegen aus. Mr. Debenham bezahlte den Chauffeur, dann stiegen sie zusammen die steinernen Treppen zu den Gewölben der Bank hinunter.
Es gab noch einen kurzen Aufenthalt, als Mr. Debenham erklärte, in wessen Vollmacht er gekommen sei. Während die Beamten in ihren Büchern nachschlugen, erschien auch Poltavo auf der Bildfläche.
Er beugte sich über Doris’ Hand und behielt sie etwas länger in der seinen, als es Frank lieb sein konnte. Er flüsterte einige nichtssagende Glückwünsche und begrüßte Mr. Debenham durch ein Kopfnicken.
»Graf Poltavo ist hier auf Wunsch Ihres verstorbenen Onkels anwesend«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich erhielt einige Tage vor seinem Verschwinden einen Brief, in dem er mir dies mitteilte.«
Frank nickte unzufrieden, aber er war doch großzügig genug, sich in die Lage dieses Mannes zu versetzen, und gab sich Mühe, freundlich gegen ihn zu sein.
Ein uniformierter Beamter führte sie durch viele lange Korridore zu einem besonderen Gewölbe, das durch eine schwere eiserne Gittertür abgeschlossen war. Der Beamte öffnete, und sie traten in die kleine Steinkammer, die von Deckenlampen erleuchtet war.
Das einzige Möbelstück in diesem Raum war ein kleiner Geldschrank, der in der einen Ecke stand. Der Rechtsanwalt drehte den Schlüssel in dem Schloß fachgerecht um, und die Stahltür tat sich auf. Mr. Debenham versperrte die Öffnung, so daß sie nicht in das Innere des Schrankes sehen konnten. Dann wandte er sich plötzlich aufs höchste erstaunt um.
»Der Schrank ist leer«, sagte er.
»Leer?« rief Doris atemlos.
»Nur dies lag darin.« Er reichte ihr einen kleinen Briefumschlag, den sie mechanisch öffnete. Sie las den Inhalt:
Unglücklicherweise war ich gezwungen, Dein Vermögen für die Durchführung meiner Pläne zu verwenden. Du wirst mich deswegen anklagen, aber verzeihe mir, denn ich habe Dir einen größeren Schatz gegeben als den, den Du verloren hast – einen Gatten –
»Was soll das bedeuten?« fragte sie leise.
Frank nahm den Brief aus ihrer Hand und las ihn zu Ende.
– einen Gatten in der Person Frank Doughtons, und Frank Doughton ist der Erbe der Tollington Millionen, wie es sein Vater vor ihm war. Alle nötigen Schriftstücke, die seine Identität mit dem Erben beweisen, sind in einem versiegelten Kuvert enthalten, das mein Rechtsanwalt verwahrt. Es trägt ein großes C auf der Vorderseite.
Die Unterschrift des Briefes lautete: Gregory Farrington.
Mr. Debenham fand seine Fassung zuerst wieder. Sein praktischer Verstand wandte sich sofort der augenblicklichen Lage zu.
»Ich kann bestätigen, daß ich ein solches Kuvert in Verwahrung habe«, erklärte er. »Mr. Farrington übergab es mir mit der strikten Anweisung, es den Testamentsvollstreckern oder einer anderen Person nicht eher zu übergeben, als bis ich ganz bestimmte Instruktionen von ihm erhalten würde. Ich spreche Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch aus, Mr. Doughton.«
Er wandte sich zu dem erstaunten jungen Mann und schüttelte ihm die Hand. Frank hatte wie im Traum zugehört. Er war der Erbe der Tollington-Millionen – er, der Sohn George Doughtons? Und während der ganzen Zeit hatte er nach Mr. Tollingtons Schwester gesucht – nach seiner eigenen Großmutter!
Plötzlich wurde ihm alles klar. Alle Anstrengungen und Nachforschungen hätte er sich vielleicht ersparen können, wenn er den Vornamen der Mutter seines Vaters gewußt hätte!
Er konnte sich nur ganz schwach an diese gutmütige alte Dame erinnern. Sie starb, als er noch in die Schule ging. Niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß diese heitere Frau, die nur wenige Stunden vor ihrem geliebten Mann aus dem Leben schied, in irgendeiner Beziehung zu Tollingtons Schwester stehen könnte, die er so sehr gesucht hatte. Er atmete schwer, als er erkannte, daß sein großes Glück ihn in demselben Augenblick ereilte, in dem seine Frau finanziell ruiniert wurde. Er sah sie an, aber der Schlag war zu schwer für sie, als daß sie seine ganze Tragweite sofort hätte erfassen können.
Liebevoll legte er seinen Arm um ihre Schultern. Poltavo, der nervös an seinem kleinen Schnurrbart drehte, betrachtete die beiden mit gesenkten Augenlidern. Ein häßliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
»Aber mein Liebling, es ist ja alles gut«, sagte Frank beruhigend. »Dein Vermögen ist sichergestellt – er hat es ja nur zeitweise nötig gehabt.«
»Ach, das ist es nicht«, erwiderte sie mit einem unterdrückten Schluchzen. »Es ist das Bewußtsein, daß mein Onkel dich durch eine List zu dieser Ehe gezwungen hat. Daß er mein Vermögen nahm, kümmert mich nicht. Geld bedeutet mir nicht viel. Aber er hat dich durch einen Trick gefangen und mich als Lockspeise dazu benützt.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Aber in wenigen Augenblicken hatte sie sich wieder gefaßt. Sie sagte nichts mehr und duldete es, daß Frank sie zu dem Wagen führte.
Poltavo sah dem Auto nach, bis es außer Sicht kam. Er lächelte wieder unverschämt und wandte sich an den Rechtsanwalt.
»Wirklich ein schlauer Kopf, dieser Mr. Farrington«, sagte er mit bitterem Ton. Er mußte diesen Mann selbst gegen seinen Willen bewundern.
Mr. Debenham sah ihm fest ins Gesicht.
»Die Gefängnisse dieses Landes sind voll von Leuten, deren Spezialität eine solche Schlauheit ist«, erwiderte er trocken und ließ Poltavo stehen, ohne sich von ihm zu verabschieden.
17
Mr. Smith spielte gerade Golf in Walton Heath, als nach ihm telefoniert wurde.
Er brach sofort auf und traf Ela beim Mittagessen im Ritz-Hotel.
»Jetzt ist alles verständlich«, sagte er. »Das eigenartige Verschwinden Mr. Farringtons ist aufgeklärt.«
»Mir ist aber die endgültige Lösung doch noch ein wenig schleierhaft«, erwiderte Ela unsicher.
»Dann will ich es Ihnen einmal in einfachen Worten erklären«, entgegnete Mr. Smith, als er sich eine Sardine von der Horsd’oeuvre-Platte nahm. »Farrington wußte schon lange, daß George Doughton der gesuchte Tollington-Erbe war. Er kannte dieses Geheimnis seit vielen Jahren. Aus diesem Grund ließ er sich auch in Great Bradley nieder, wo die Doughtons beheimatet waren. Offenbar waren damals die älteren Doughtons schon gestorben, und nur George Doughton, der etwas romantische und unpraktische Wissenschaftler, repräsentierte die Familie.
George hatte sich in die jetzige Lady Constance Dex verliebt, und da Farrington das wußte, tat er alles, um sich bei ihr beliebt zu machen. Er wußte, daß das Vermögen zu gleichen Teilen an Doughton und seine Frau fallen sollte. George Doughton war Witwer und hatte einen Sohn, der damals zur Schule ging. Es ist sehr leicht möglich, daß Farrington den Jungen, der nur in den Ferien nach Great Bradley kam, nicht kannte und keine Ahnung von seiner Existenz hatte.
Die Tatsache, daß dieser Knabe am Leben war, muß seine Absichten geändert haben. Immerhin schien er der Verlobung der beiden nichts in den Weg zu legen, während er einen Plan ausdachte, durch den er einen großen Teil der Tollington-Millionen für sich erwerben konnte. Aber er muß sein Vorhaben noch einmal geändert haben.
Während seines Aufenthalts