Edgar Wallace

Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band


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dauerte einige Zeit, bis sie das Büro gefunden hatte, denn es lag am Ende eines langen Flügels. Sie sah zwei Türen. Die eine trug die Aufschrift ›Privat‹, die andere ›Alb. Selim‹.

      Sie klopfte an, und jemand rief: »Herein!«

      Eine kleine Schranke trennte den eigentlichen Büroraum von dem schmalen Gang, in dem sich die Besucher im allgemeinen aufhalten durften.

      »Nun, Miss?«

      Der Herr, der auf sie zutrat, sprach barsch, beinahe feindselig.

      »Ich möchte Mr. Selim sprechen«, sagte sie, aber der junge Mann schüttelte den Kopf.

      »Das ist unmöglich, wenn Sie nicht eine Verabredung mit ihm haben. Und auch dann würde er nicht persönlich verhandeln.« Plötzlich unterbrach er sich und sah sie groß an. »Aber Sie sind doch Miss Nelson«, sagte er dann erstaunt. »Ich hatte nie erwartet, Sie hier zu sehen.«

      Sie wurde über und über rot und versuchte vergeblich, sich zu besinnen, woher er sie kennen konnte.

      »Sie erinnern sich sicher – Sweeny ist mein Name.«

      Sie errötete noch mehr.

      »Ja, natürlich – Sweeny.«

      Sie war bestürzt und fühlte sich gedemütigt, als sie ihn erkannte.

      »Sie haben seinerzeit Ihre Stelle bei Mr. Merrivan sehr schnell verlassen?«

      Nun wurde es ihm ungemütlich, als das Gespräch diese Wendung nahm.

      »Ja, das stimmt.« Er räusperte sich verlegen. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Mr. Merrivan. Ein geiziger Mensch! Und schrecklich mißtrauisch!« Er räusperte sich wieder. »Haben Sie damals nichts darüber gehört?«

      Sie verneinte. Die Dienstboten blieben nicht lange genug im Nelsonschen Haus in Stellung und wurden nicht so vertraut mit ihrer Herrschaft, daß sie über Klatsch sprechen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten.

      »Nun, die Sache verhielt sich so.« Mr. Sweeny war ein wenig erleichtert, daß er Gelegenheit hatte, ihr die Geschichte zuerst von seinem Standpunkt aus zu erzählen. »Mr. Merrivan vermißte einige Stücke seines Tafelsilbers, die ich unglücklicherweise meinem Bruder geliehen hatte, der sie kopieren wollte. Er interessierte sich sehr für altes Silber, da er selbst gelernter Juwelier und Goldschmied ist. Als nun Mr. Merrivan die Stücke vermißte –« Er hustete wieder, wurde sehr verwirrt und sagte, er sei bezichtigt worden, das Silber gestohlen zu haben! Mr. Merrivan hatte ihn fristlos entlassen! »Ich hätte damals verhungern können, wenn nicht Mr. Selim von mir gehört und mir diese Stellung gegeben hätte. Sie ist nicht gerade glänzend«, fügte er entschuldigend hinzu, »aber es ist doch wenigstens etwas. Ich wünsche oft, ich wäre wieder dort in dem hübschen Tal von Beverley Green.«

      Sie unterbrach ihn: »Wann kann ich denn Mr. Selim sprechen?«

      Aber er schüttelte wieder energisch den Kopf.

      »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miss Nelson. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gesehen.«

      »Wie?« Sie starrte ihn verwirrt an.

      »Das ist eine Tatsache. Er ist Geldverleiher – aber das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen.«

      Er sah sie mit einem wissenden Blick an, und sie wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken.

      »Er wickelt alle seine Geschäfte brieflich ab. Ich empfange hier die Besucher und bespreche mit ihnen die Angelegenheit. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß er sich daran hält«, erklärte er. »Die Kunden füllen dann die Formulare aus – Sie verstehen mich schon –, sie geben an, welche Summe sie brauchen, welche Sicherheiten sie bieten können und dergleichen Dinge – und ich lasse dann die Schriftstücke hier im Geldschrank für Mr. Selim, bis er kommt.«

      »Wann kommt er denn?«

      »Das weiß Gott allein«, erwiderte Mr. Sweeny. »Auf jeden Fall kommt er hierher, denn die Briefe werden zwei-bis dreimal wöchentlich abgeholt. Er setzt sich dann schriftlich mit den Leuten in Verbindung. Ich erfahre niemals, welches Darlehen sie erhalten oder wieviel sie zurückzahlen.«

      »Gibt er Ihnen seine Aufträge auch schriftlich?« fragte Miss Nelson, deren Neugierde im Augenblick über ihre Enttäuschung siegte.

      »Nein, er telefoniert mit mir, ich weiß aber niemals, woher. Es ist überhaupt eine sonderbare Stellung. Ich bin nur je zwei Stunden an vier Tagen der Woche beschäftigt.«

      »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu sprechen?« fragte sie noch einmal verzweifelt.

      »Nein, nicht die geringste«, entgegnete Mr. Sweeny, der wieder überheblich wurde. »Es ist nur ein Weg vorhanden, mit Albert Selim geschäftlich zu. verkehren – man muß ihm schreiben.«

      Sie dachte eine Weile nach.

      »Geht es Mr. Nelson gut?«

      »Danke, sehr gut«, antwortete sie hastig, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich nach meinem Vater zu erkundigen. Ich –« Es war ihr unerträglich peinlich, einen Angestellten ins Vertrauen ziehen zu müssen. »Sie sagen doch nichts davon, daß Sie mich hier gesehen haben?«

      »Aber bestimmt nicht«, meinte Sweeny zuvorkommend. »Großer Gott, wenn Sie wüßten, welche Leute hierherkommen, Sie würden erstaunt sein. Berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen, Leute, deren Namen ein Begriff sind. Minister, Geistliche –«

      »Leben Sie wohl, Sweeny.«

      Sie schloß die Tür hinter sich.

      Ihre Knie wankten, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie zog es vor, den Fahrstuhl nicht zu benützen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie sich auf eine Unterredung mit Mr. Selim verlassen hatte. Verzweifelt sah sie sich nun der unerbittlichen Wirklichkeit gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr. Was konnte den Untergang jetzt noch aufhalten? Nichts – nichts! Der Mann, den sie hatte sprechen wollen, der einzige, der ihr helfen konnte, war unerreichbar für sie:

      Sie stieg um und kam um fünf Uhr nachmittags in Beverley an. Der erste, den sie sah, als sie aus dem Zug stieg, war der ruhige, kluge Detektiv mit den grauen Augen. Er hatte sie auch erkannt, und ihre Blicke trafen sich, als sie das Abteil verließ. Einen Augenblick stand ihr Herz still, dann sah sie an seiner Seite einen Mann mit Handschellen – es war der kanadische Professor! Den hatte er also verhaften wollen – den freundlichen Gelehrten, der sich mit ihr so interessant über Versteinerungen unterhalten hatte.

      Scottie wußte sehr viel über Fossilien und Gesteinsformationen. Es war sein Steckenpferd. An Scotties anderer Seite stand ein Polizist. Der Verbrecher selbst erwiderte ihren erschrockenen Blick durch ein liebenswürdiges Lächeln. Sie vermutete, daß solche Menschen allmählich abstumpften und hart wurden.

      Sie sah schnell zu Andy hinüber, ging an ihm vorbei und atmete dann erleichtert auf. Ihre schreckliche Befürchtung hatte sich also nicht bewahrheitet. Sie konnte getrost zurückkehren. Und sie war beinahe in froher Stimmung, als sie den mit Rosenstöcken eingesäumten Gartenweg entlangging.

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn man in Nelsons Haus eintrat, kam man in eine große Eingangshalle, die auf drei Seiten von einer Galerie umgeben war, zu der man auf einer breiten Treppe emporsteigen konnte.

      Nelson stand an einer Staffelei und betrachtete ein Gemälde, sein Gesicht war nicht zu sehen. Aber Stella brauchte es auch nicht zu sehen, seine Haltung sagte ihr schon genug. Er wandte sich jetzt um und betrachtete seine Tochter mit einem gewissen Unmut. Er hatte ein schmales Gesicht und war ziemlich kahlköpfig. Seine Nase war fein und aristokratisch, Mund und Kinn waren ohne Energie. Ein dünner, brauner Schnurrbart, der grau zu werden begann, gab ihm ein fast militärisches Aussehen, das augenblicklich auch zu seiner kriegerischen Stimmung paßte.