du auch, daß ich kein Mittagessen hatte?« fragte er düster.
»Ich sagte dir doch heute morgen, daß ich in die Stadt fahren würde. Warum hast du nicht Mary gefragt?«
Sie fürchtete schon seine Antwort.
»Mary habe ich entlassen«, erklärte er hochfahrend.
Stella seufzte.
»Du hast doch nicht etwa auch die Köchin fortgeschickt?«
»Die habe ich auch hinausgeworfen.«
»Hast du ihnen denn auch ihren Lohn gegeben?« fragte sie zornig. »Vater, warum machst du immer so schreckliche Geschichten?«
»Ich habe sie entlassen müssen, weil sie unverschämt wurden«, entgegnete Mr. Nelson würdevoll. »Das genügt doch wohl. Ich bin Herr in meinem eigenen Hause.«
»Ich wünschte, du wärst etwas mehr Herr deiner selbst«, sagte sie müde, ging zum Kamin, nahm eine dort stehende Flasche und hielt sie gegen das Licht. »Immer wirfst du die Dienstboten hinaus, wenn du betrunken bist!«
»Betrunken?« fragte er beleidigt.
Sie nickte. In solchen Augenblicken sagte sie ihre Meinung frei heraus. »Morgen wirst du mir wieder erzählen, daß du dich an nichts erinnern kannst, und dann tut dir alles leid. Ich muß aber wieder nach Beverley und zwei neue Dienstboten auftreiben. Sie werden sehr schwer zu finden sein.«
Nelson hob die Augenbrauen. »Wie, du hältst mich für betrunken?!« rief er vorwurfsvoll.
Aber sie achtete nicht weiter auf ihn, ging in die Küche und machte sich daran, etwas zu kochen. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufstieg und immer wieder vor sich hinsagte: »Betrunken?« Dann lachte er höhnisch.
Sie saß am Küchentisch, trank eine Tasse Kakao und aß eine Schnitte Brot mit Butter. Sie sah sich auch nach einem Stückchen Käse um, aber sie wußte im voraus, daß nichts dasein würde. Mr. Nelson hatte eine Vorliebe für Käse, wenn er trank. Hätte er doch nur etwas gearbeitet! Sie ging in das Atelier, das auf der Rückseite des Hauses lag. Die Leinwand, die sie ihm am Morgen aufgespannt hatte, war unberührt, kein Kohlestrich war darauf zu sehen.
Stella seufzte.
»Es hat ja doch alles keinen Zweck«, sagte sie traurig und betrachtete wehmütig die vielen halbvollendeten Studien, die an der Wand hingen.
Sie ließ sich an einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Ateliers nieder und machte Eintragungen in ihr Wirtschaftsbuch, als die Hausglocke läutete. Sie stand auf und ging in die Halle. Draußen dämmerte es schon. Der Herr, der geklingelt hatte, war einige Schritte von der Tür zurückgetreten, so daß sie ihn zuerst nicht erkennen konnte.
»Ach, du bist es, Artur? Komm bitte herein. Vater ist schon nach oben gegangen.«
»Das habe ich vermutet.«
Mr. Artur Wilmot wartete, bis sie das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, bevor er nähertrat.
»Du warst heute in der Stadt?«
»Hast du mich gesehen?« fragte sie schnell.
»Nein, jemand hat es mir erzählt – ich glaube, es war Merrivan. Hast du schon die Geschichte von dem kanadischen Professor gehört? Er ist in Wirklichkeit ein so bekannter Einbrecher, daß sich ein Mann wie Andrew Macleod mit ihm beschäftigt. Macleod ist eigentlich ein Arzt.«
Sie wußte sofort, daß er von dem Mann mit den grauen Augen sprach, aber sie wollte Gewißheit haben.
»Wer ist Andrew Macleod?«
»Ein Detektiv, aber eigentlich ist er Arzt. Man vertraut ihm alle schwierigen, wichtigen Fälle an, und unser Professor ist ein Muster von einem Einbrecher. Er hat den Spitznamen Scottie, wenigstens hat ihn Mr. Macleod so angeredet.«
»Ich muß ihn auf dem Bahnhof gesehen haben, Ein hübscher Mensch mit eigentümlichen Augen.«
»Ich würde Scottie kaum als einen hübschen Mann bezeichnen«, erwiderte Wilmot.
Sie war so verwirrt, daß sie seinen Irrtum nicht korrigierte.
»Ich kann dich leider nicht bitten, heute abend länger zu bleiben; wir haben kein Personal im Hause.«
»Schon wieder einmal kein Personal?« fragte er erstaunt. »Das ist aber doch zu schlimm! Dein Vater benimmt sich wirklich unmöglich! Nun mußt du wieder Köchin und Dienstmädchen spielen, bis du neue Leute gefunden hast.«
»Und mein zerknirschter Vater will mir dabei helfen und steht mir dabei dauernd im Wege. Es ist eine Not mit ihm, und dabei ist Vater doch ein so guter, liebenswürdiger Charakter, wenn –«
Der junge Mann hatte schon die Frage auf der Zunge, wann Mr. Nelson überhaupt einmal nüchtern sei. Er war aber so klug, sie damit nicht zu ärgern. In anderer Weise jedoch war er nicht klug genug, wie sich später herausstellte.
»Was hast du denn in der Stadt gemacht?«
»Warum willst du das wissen?« Sie schaute ihn an.
»Wenn ich geahnt hätte, daß du in der Stadt warst, hätten wir zusammen zu Mittag essen können.«
»Ich denke nicht an Essen, wenn ich nach London gehe. Aber was treibst du eigentlich immer dort? Ich habe dich schon oft nach deiner Beschäftigung gefragt. Erlaube, daß ich einmal indiskret bin und gerne wissen möchte, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.«
Er schwieg zunächst. »Ich habe eben meinen Beruf«, erwiderte er dann unbestimmt.
»Hast du ein Büro?«
»Ja, ich habe auch ein Büro.«
»Wo liegt es denn?«
»Ich benütze meistens andere Büros – ich habe viele Freunde und mein –« Er stockte wieder. »Ich besuche meine Kunden möglichst in ihren Wohnungen.«
»Du bist weder Rechtsanwalt noch Arzt. Du bist auch kein Börsenagent – ich muß sagen, Artur, daß du fast ebenso geheimnisvoll bist wie – wie Scottie, wie du ihn nennst. Ich meine unseren armen Professor. Aber nun gehst du besser nach Hause«, sagte sie dann unvermittelt. »Ich bin nicht peinlich in bezug auf Anstandsregeln« – von oben kam ein Poltern und sie schaute zur Decke hinauf – »aber wenn mein Vater zu Bett gegangen ist ich glaube, er hat eben seine Stiefel ausgezogen –, dann kannst du nicht mehr bleiben.«
»Du hast wohl nicht mehr nachgedacht über –«, begann er zögernd. »Ich möchte dich nicht drängen oder Vorteil aus … aus der jetzigen Lage ziehen…«
Sie sah ihn freundlich an. Er hatte ein großes Gesicht, gepflegtes Haar und einen kleinen, schwarzen Schnurrbart. Stella hatte manchmal die Vorstellung, daß sich eine schwarze Raupe auf seine Oberlippe verirrt hätte, und zuweilen kam ihr seine ganze Erscheinung ein wenig lächerlich vor. Aber heute abend empfand sie nur Mitgefühl mit ihm.
»Ich habe über alles nachgedacht, Artur – es ist ganz unmöglich. Ich möchte überhaupt nie heiraten. Und nun geh nach Haus und vergiß das alles.«
Er hatte den Blick gesenkt. Es folgte ein tiefes Schweigen. Sie wollte ihn nicht in seinen Gedanken stören, die nicht allzu rosig zu sein schienen.
Aber plötzlich fuhr er auf: »Stella, es wäre besser, wenn du nicht immer derartige Redensarten gebrauchen und mich wie einen kleinen Jungen behandeln würdest, den man beruhigen muß. Du bist eine Frau, ich bin ein Mann. Ich biete dir etwas. Ich habe eine Stellung und eine Existenz, und wenn Merrivan einmal stirbt … nun, du weißt, ich bin sein einziger Verwandter. Du bist pekuniär in einer sehr bedrängten Lage, erst heute warst du wieder wegen irgendeiner Geldgeschichte in der Stadt. Ich weiß zwar nicht, um was es sich handelt, aber früher oder später werde ich es erfahren. Du kannst dich nicht länger in Beverley Green halten. Dein Vater hat so viel getrunken, daß schon zwei hohe Hypotheken auf dem Haus lasten, und es wird nicht mehr allzulange dauern, bis er auch die Möbel und die